Gelegentlich bemerkt ein sehr schlauer Mensch, dass die Wahlergebnisse, die regelmäßig verkündet werden, gar nicht korrekt sind: In den Balken- und Tortendiagrammen fehlen nämlich die Nichtwähler, die doch eine große Fraktion, ja oft die größte bilden! Diese originelle Einsicht wird sodann verschieden instrumentalisiert: Protestparteien verbuchen die Nichtwähler zumeist als eigene, indem sie behaupten, diese zornigen Verweigerer stünden eigentlich auf ihrer Seite, hätten sich nur leider noch nicht aufraffen können, auch in diesem Sinne abzustimmen. Die Gegner der Populisten neigen hingegen dazu, die Nichtwähler als enttäuschte oder träge Demokraten anzusprechen, die man zurückgewinnen oder aufrütteln müsse, um den Radikalismus zu schwächen. Beiden Sichtweisen liegt offenkundig derselbe Irrtum zugrunde: Alle gehen davon aus, die Nichtwähler wären eine homogene Gruppe. Tatsächlich sind die Gründe dafür, warum Menschen nicht zur Wahl gehen, sehr unterschiedlich und auch unterschiedlich vernünftig. Im Folgenden möchte ich die gängigsten Erklärungen von Nichtwählern prüfen:
„Mich interessiert Politik nicht. Es ist mir egal, wer da regiert. Mit meinem Leben hat das nichts zu tun.“
Diese Einstellung ist nachvollziehbar und konsequent. Wem es gleichgültig ist, wer regiert, der hat auch keinen vernünftigen Grund, zur Wahl zu gehen. Man vergisst oft, dass – repräsentativen Umfragen zufolge – nur ungefähr die Hälfte der Bürger sich überhaupt für Politik interessiert, die andere Hälfte aber gar nicht. Insofern ist es eher erstaunlich, dass bei bundesweiten Wahlen zumeist doch mehr als 70 Prozent der Bürger teilnehmen. Wer auch den Rest der unpolitischen Menschen mit dem Argument überzeugen will, jeder werde doch von politischen Entscheidungen betroffen, der hat einen schweren Stand. Tatsächlich beeinflusst Politik in demokratischen Staaten nur in Zeiten von Krise und Krieg das Leben der meisten in einer existenziellen Weise. In normalen Zeiten kann man durchaus unpolitisch leben – darf sich dann aber konsequenterweise auch nicht beschweren. Man ist dann streng genommen kein Bürger, sondern ein Untertan, aber es gibt auch glückliche Untertanen.
„Man weiß doch gar nicht, wofür man eigentlich stimmt. Die Parteien machen doch eh, was sie wollen. Sie versprechen vor der Wahl das eine und tun dann das Gegenteil.“
Dieses Argument ist teilweise berechtigt, wie schon ein flüchtiger Blick auf die jüngere Vergangenheit zeigt: Man stimmt für Rot-Grün, weil einem soziale Gerechtigkeit und Frieden versprochen wurden, bekommt dann aber Hartz-IV und Kriegseinsatz in Jugoslawien. Man stimmt für Schwarz-Gelb und erhält überraschend Atomausstieg und Abschaffung der Wehrpflicht. Wer die Ursache für diese Diskrepanz zwischen Wahlversprechen und Regierungshandeln in der Charakterschwäche der Politiker sucht, macht es sich allerdings etwas zu leicht. Hier sind einfach zwei verschiedene Tätigkeiten gegeben: Vor der Wahl kämpft der Politiker um Zustimmung, nach der Wahl muss er unter dem Einfluss von sachlichen Zwängen das Mögliche tun. Wird die Diskrepanz zu groß, geht allerdings die Legitimität der Politik überhaupt flöten. Es ist durchaus vernünftig, Regierungspolitiker für gebrochene Wahlversprechen zu bestrafen. Allerdings kann man dies besser als durch Wahlenthaltung durch die Wahl oppositioneller Parteien tun. An der grundsätzlichen, unaufhebbaren Diskrepanz zwischen Versprechen und Realität ändert Nichtwählen auch nichts.
„Die Entscheidungen werden doch sowieso von den Wirtschaftsbossen getroffen, Politiker sind nur Befehlsempfänger.“
Auch diese Einstellung entbehrt nicht der Grundlage. In der Tat gibt es eine beträchtliche Macht, die nicht vom Volke, sondern vom Gelde ausgeht. Denn Reiche und Unternehmer können durch direkte Bestechung oder legalen Lobbyismus weit größeren Einfluss auf die Politik ausüben als Normalbürger. Allerdings ist dieser Einfluss auch nicht unbegrenzt. Unpopuläre Maßnahmen lassen sich nicht dauerhaft gegen den Willen der Mehrheit durchdrücken, solange das allgemeine, gleiche Wahlrecht besteht. Es gibt Beispiele wie den Mindestlohn, die belegen, dass politische Entscheidungen auch gegen den Willen der Kapitalisten durchgesetzt werden können. Der Weg, auf dem sich dies erreichen lässt, ist aber gerade der politische. Darum ist es absurd, aus Protest gegen den politischen Einfluss der Ökonomie auf das Wählen zu verzichten.
„Jede Stimme für irgendeine Partei stützt doch bloß das Schweinesystem, das aber gestürzt werden muss, damit eine wahre Demokratie möglich wird.“
Wir leben nicht in revolutionären Zeiten und es gibt keine revolutionäre Partei, die mit der Vision einer ganz anderen, besseren Gesellschaft die Massen begeistert. Wenn sich unter diesen Umständen ein Häuflein Systemkritiker in Wahlenthaltung übt, juckt dies das System nicht im Geringsten. Wer aber der Meinung ist, jede politische Aktion, die nicht in absehbarer Zeit die Weltrevolution herbeiführt, sei sinnlos, der unterscheidet sich kaum von einem politischen Romantiker.
„Die Parteien sind doch alle gleich.“
Dies ist Unsinn. Politiker sind allenfalls darin gleich, dass sie eben alle Politiker sind und den Zwängen und Versuchungen unterliegen, die mit dieser Rolle unvermeidlich verbunden sind. Was den Inhalt angeht, ist aber auf dem Wahlzettel das gesamte politische Spektrum vom Nationalsozialismus bis zum Marxismus-Leninismus durch Parteien vertreten; es gibt Konservative, Liberale und Sozialisten in den verschiedensten Spielarten. Wer in diesem Angebot nichts findet, der weiß einfach nicht, was er politisch will.
„Aber es gibt doch keine Partei, die genau zu mir passt und die meine Überzeugungen vertritt. An allen stört mich etwas.“
Wer einmal die Leserbriefseiten oder die Kommentarspalten von politischen Medien studiert hat, dem müssen ernste Zweifel kommen, ob die Leute politisch wirklich so individuell sind, wie sie gerne alle behaupten. Die meisten politischen Diskussionen wiederkäuen die immer gleichen Gemeinplätze. Die Behauptung, jeder Bürger bräuchte eigentlich eine eigene, persönliche Partei, um sich ganz repräsentiert zu fühlen, ist vielleicht die schlimmste Phrase von allen. Wie auch immer dem nun sein mag: Dass jede Gemeinschaft von Menschen dem Einzelnen nur annähernd gerecht werden kann, ist eine Selbstverständlichkeit. Wer seine Skrupel nicht überwinden kann, eine Partei zu wählen, mit der er nur überwiegend, aber nicht ganz übereinstimmt, der muss zuhause bleiben. Es entscheiden dann eben allein die Entscheidungsfreudigeren.
„Meine einzelne Stimme ist doch bedeutungslos und hat keinen messbaren Einfluss.“
Dieses Argument ist nicht nur unvernünftig, sondern sogar anmaßend. Deine Stimme hat genau den Einfluss, der dir zusteht. Du bist einer von Millionen und eben deswegen auch nur als Millionstel an der Entscheidung beteiligt. Wem das zuwenig ist, der fordert gleichsam: Ich mache in der Politik mit, aber erst, wenn meine Stimme mehr zählt als die der anderen! Wer sich für schlauer als die anderen hält, der kann ja für ein politisches Amt kandidieren und den eigenen Machtanspruch dem Urteil der Mitbürger vorlegen.
„Ich würde ja gerne wählen, aber ich kenne mich mit der Politik echt zu wenig aus. Das ist mir alles zu kompliziert!“
Das politische Geschehen ist durchaus komplex, aber doch auch nicht so undurchsichtig, als dass nicht jemand mit Allgemeinwissen und gesundem Menschenverstand sich eine begründete Meinung bilden könnte. Es mag sein, dass es ein paar Leute gibt, die selbst dafür zu dumm sind. Wer aber einen Satz wie den obigen äußert, der kann nicht ganz dumm sein, denn Einsicht in die eigene Unwissenheit erfordert schon ein gewisses Maß an Klugheit. Die Dummen wissen nichts von ihrer Dummheit (und gehen vielleicht ganz unbeschwert wählen). Menschen, die sich selbst für zu unwissend halten, fehlt es also nicht an Hirn, sondern an Fleiß. Ihr Problem ist nicht die Dummheit, sondern die Faulheit. Sie haben keine Lust, ein bisschen Kraft in die eigene politische Bildung zu investieren, mal eine Zeitung durchzulesen oder beim Wahl-O-Mat ein paar Knöpfchen zu drücken. Bei einigen Menschen ist diese Faulheit wohl wirklich unüberwindlich, ein Argument gegen das Wählen ist sie aber nicht.
„Wählen ist mir zu anstrengend. Da hab ich am Sonntag gar keine Zeit für.“
Dieses Argument ist auch nicht überzeugend. Gewöhnlich nimmt der Wahlakt kaum mehr Zeit in Anspruch als der Erwerb einer Schachtel Zigaretten. Wählen ist dazu noch gesünder als Rauchen. Und es kann sogar Spaß machen, wenn man die bürgerliche Pflichterfüllung mit einem gediegenen Umtrunk mit Freunden verbindet.