Über den sehr gelungenen Auftritt, den Julius und ich am letzten Sonnabend in Greifswald bestreiten durften, wird Julius in den kommenden Tagen hier an dieser Stelle in Form eines vieraktigen Versdramas berichten. Ich möchte hingegen von einem Leseerlebnis erzählen, das ich in jener redundanten Lebenszeit hatte, die mir mein Geiz beim Fahrkartenkauf eintrug. Lasst es mich freundlicher ausdrücken: Ich kaufte zwei Wochenendtickets in ein ganz besonderes literarisches Vergnügen. Ich las ein Buch von Jochen Schmidt …
Ich folgte dem Rat mancher Kollegen, die Schmidts Debüt Triumphgemüse für sein bestes Buch halten. Ob das stimmt, werde ich erst in einigen Monaten wissen. Das erste Buch von Jochen Schmidt war auch mein erstes Buch von Jochen Schmidt. Es ist übrigens zur Zeit nur noch antiquarisch zu bekommen, was aber gar nicht schwer ist.
Triumphgemüse ist ein Band mit Erzählungen und er ist mehr als das. Nicht nur, weil auch Kurztexte aus der Reihe „Berufe“ darin zu finden sind. Sondern weil sich die Geschichten, die weniger Short Storys als kurze Erzählungen sind, zu einem unvollständigen Roman zusammen fügen. Es ist der Jugendroman eines Schriftstellers, dessen Ende im Buch fehlt, weil das Erscheinen des Buches selbst sein Ende ist. Ein Ende, das ein größeres Glück für den Leser darstellt, als es jedes literarische Happy Ending hätte sein können.
Im Buch findet sich auch die Geschichte „Harnusch mäht als wärs ein Tanz“, mit der Jochen Schmidt 1999 den Open Mike-Literaturpreis der literaturWERKstatt Pankow gewann. Im selben Jahr war er auch Mitbegründer der Lesebühne Chaussee der Enthusiasten, die heute die vielleicht erfolgreichste Veranstaltung ihrer Art in Berlin ist. So versucht denn auch der Klappentext des Verlages aus dem Jahr 2000, den Autor einmal als „jungen Wilden“ des literarischen „Untergrunds“, dann aber auch wieder als seriösen Literaturpreisträger zu verkaufen, der in diesem Buch „das Spektrum seines Könnens in ganzer Breite“ zeige. Geschickt gemacht vom Verlag C. H. Beck, durch ein solch grauenhaftes Werbetextchen den lakonischen, pointierten und genauen Stil des Autors nur desto besser hervorscheinen zu lassen.
Jürgen Reip ist ein junger Mann in Berlin, der zur Zeit der „Wende“ erwachsen geworden ist – oder vielleicht auch nicht erwachsen geworden ist. Jürgen Reip ist übrigens Jochen Schmidt. In seiner Seele liefern sich literarisches Selbstbewusstsein und persönliches Inferioritätsgefühl einen erbitterten Kampf, bei dem es keinen Gewinner geben kann. Und darf. Es ist, als seien ein Schachspieler und ein Boxer zum Wettkampf verdammt. Kaum hat der schmächtige Brillenträger endlich einmal das Fäustchen zum Schlag geballt, da reißt der Boxer mit seinem Handschuh alle Figuren um bei dem Versuch, den ersten Zug zu machen. Der Schriftsteller Jochen Schmidt lebt von der Veräußerung jener Lebensschwäche, die er zu überwinden versucht. Ist das eine tragische Situation? Ja, aber es ist auch eine komische.
Wie Jürgen Reip aus seiner Jugend als Theaterenthusiast erzählt, wie er gegen den unverdienten Erfolg einer gewissen „Jule Lehmann“ mit ihrem Buch „Datsche, demnächst“ protestiert, wie er immer neue Anläufe unternimmt, einer schönen Kellnerin näherzukommen, wie er auf einer Reise nach Russland einer Bulgarin verfällt, die ihn wegen seiner Ungefährlichkeit mag – das sind so die Geschichten, bei denen man Jochen Schmidt nachts am Schreibtisch sitzen zu sehen meint. Schon bei diesem ersten Buch gab es daher von Seiten einiger Kritiker den auch beim jüngsten Werk wieder zu hörenden Vorwurf, der Autor würde seine Leser mit Tagebuchauszügen behelligen. Es ist dies ein gar klassisches Dogma der deutschen Literatur: In seiner berüchtigten Kritik der Gedichte von Gottfried August Bürger hatte Friedrich Schiller diesem vorgeworfen, es sei gänzlich unpoetisch, persönliche Erfahrungen darzustellen. Der wahre Dichter müsse vielmehr alles Subjektive vertilgen, „sich selbst zum Fremdling werden“, um echte, objektive Schönheit zu erreichen. Nun war aber Schiller ein langweiliger Spießer ohne jeden Sinn für Humor und Erotik, sodass wir auf sein Leben sehr gut verzichten können. Jochen Schmidt brauchen wir aber. Die waghalsige Offenheit, mit der hier der ewige innere Kampf eines Menschen mit sich selbst erzählt wird, erinnert mich an – es lebe der waghalsige Vergleich! – die Bekenntnisse von Rousseau. Oder sollte doch alles geschickt konstruiert sein? Ach, ich glaube nicht.
Schreibt er über die Liebe, dann kommen ihm Einfälle, für die man ihm um den Hals fallen möchte: „Man machte Gruppenfotos. Jürgen stellte den Zoom auf Magda. Das war alles, was er tun konnte, um ihr näher zu kommen.“
Es sind aber auch die Geschichten, in denen das Leben anderer Menschen erzählt wird, in denen sich das Können des Autors offenbart: Der alte Harnusch, der seinem verlorenen Hof in Polen nachtrauert und so gut mit der Sense umgehen kann, dass dem Gevatter Tod vielleicht zur Hand gehen darf. Oder Maik, der irgendwann nach der Wende den Anschluss an das Leben verlor, von dem er so lange geträumt hatte. Oder Herr Tatziet, der alte Dorfschullehrer, der unfähig ist, sich von irgendeinem Gegenstand zu trennen. Genauso ist das.