Nach dem Abendbrot lese ich noch ein paar Seiten Botho Strauß, dann mache ich mich auf zum Konzert der Kassierer. Der Weg ist nicht weit, aber kalt. Ich spute mich und verzichte auf den Kauf eines Wegbieres, das einem solchen Anlass eigentlich gemäß wäre. Mein Versäumnis reut mich auch sogleich, als ich vor der Konzerthalle stehe, umringt von Hunderten Menschen mit Bierflaschen an den Lippen. Mit trockener Kehle warte ich auf meinen Freund Hagen, mit dem ich zum Konzert verabredet bin. Vor einigen Jahren hatte ich Hagen in Berlin kennengelernt und in ihm einen Schicksalsgenossen erkannt, denn auch ihn hat es aus Sachsen nach Berlin verschlagen. Als wir damals in einer Winternacht aus dem Lokal Feuermelder stolperten, gelobte ich aus Gründen, die mir heute nicht mehr bekannt sind, mit ihm zusammen eines Tages ein Konzert der Kapelle Die Kassierer zu besuchen – ein Eid, an den ich mich seitdem stets gebunden fühlte.
Nun ist es soweit. Während ich allein warte und um mich her die Vorfreude der Massen tobt, beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Ist meine Seele überhaupt noch jugendfrisch genug für solch einen Abend? Bin ich denn noch fähig zur Ausgelassenheit? Habe ich noch den Punk-Spirit? Bin ich nicht inzwischen viel zu abgeklärt und vergrübelt, um die Musik der Kassierer noch unbeschwert genießen zu können? Es war die Zeit, in der ich mit Freunden den Erwerb meiner Hochschulreife feierte, als mich Hits wie Blumenkohl am Pillemann und Sex mit dem Sozialarbeiter zuerst begeisterten. Das ist nun aber auch schon – Gott sei’s geklagt! – zwanzig Jahre her.
Hagen kommt nicht allein, sondern bringt gleich noch eine Menge Freunde mit. Unter ihnen ragt ein Mensch heraus: eine wohl fast zwei Meter große Frau, die auch sonst eine äußerst auffällige Erscheinung ist. Wie ich rasch erfahre, ist auch sie eine Sächsin im Berliner Exil. So gut wie alle Männer, die an unserer Gruppe vorbeilaufen, bleiben einige Augenblicke mit offenem Mund stehen, verblüfft vom Anblick der Riesenfrau. Zum ersten Mal wird mir wirklich bewusst, wie stark die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern schon dadurch geprägt werden, dass Männer es gewohnt sind, auf Frauen herabzublicken.
Unterdessen haben alle ihre Bierflaschen geleert und wir stellen uns an, zunächst allerdings an der falschen Schlange, wie uns einer der Männer am Einlass mitteilt. Wir müssen uns noch einmal woanders hinten einreihen und uns unter Vorlage unserer Karten einen Stempel abholen. Auf deutschen Punkkonzerten hat alles seine Ordnung. Drinnen ist es schon ziemlich voll. Und ich erfahre von Hagen, dass es noch voller werden wird: Das Konzert ist ausverkauft. Es herrscht eine merkwürdig aufgekratzte und ausgelassene Stimmung, wie auf einem Kindergeburtstag, bei dem Doppelkorn ausgeschenkt wird. Wir geben unsere Jacken ab und holen uns das erste Bier. Hagen kauft sich am Merchandising-Stand gleich ein T-Shirt, auf dem der Refrain des großen Hits Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist gedruckt steht. Dann laufen wir in den großen Saal, um einen Blick auf die Vorband zu werfen. Sie heißt Kotzreiz. Wäre es nicht großartig, denke ich kurz, wenn eine Band mit diesem Namen akustischen Emo-Pop spielen würde? Aber dem ist natürlich nicht so. In ihren sehr eingängigen Liedern propagieren Kotzreiz den Alkoholgenuss, mit einer gewissen Skepsis hingegen begegnen sie dem Nationalsozialismus. Beeindruckend die Entschlossenheit, mit der diese Jungs sich zu ihrer Musik bekennen, mitten in einer Ära, in der Punkrock nicht gerade als heißester Scheiß gilt. Junge Männer, die im Jahr 2007 eine Band namens Kotzreiz gründen, nötigen unbedingt Respekt ab.
Wir verlassen den Saal noch einmal, um neues Bier zu holen. Im Raucherzelt diskutieren wir die Frage, ob der alte Spruch, der Punk sei nicht tot, eigentlich immer noch gültig ist. Wir schauen uns um. Der Klub ist keineswegs nur mit Senioren gefüllt, die meisten Gäste sind wohl um die dreißig Jahre alt, aber Jugendliche sieht man tatsächlich nur wenige. „Ich glaube, Punk ist im Moment bei der jüngsten Generation nicht in Mode, weil ihnen der Sinn für den Reiz des Räudigen abgeht“, spekuliere ich. „Das Anarchische ist zurzeit auch nicht populär. Wenn ich sehr junge Menschen treffe, dann scheint es mir manchmal, als wäre ihr größter Wunsch, möglichst nicht unangenehm aufzufallen. Aber ich will auch kein Pauschalurteil fällen. Letztens beobachtete ich abends in der Dresdner Neustadt auf der Straße eine Gruppe von Schülern beiderlei Geschlechts. Sie liefen in abgerissener Kleidung herum, hörten lauten Punk von einem Rekorder und pissten lachend in die Hauseingänge. Bei diesem Anblick dachte ich: Es besteht Hoffnung! Hör auf, über die Jugend zu meckern, wie es alte Männer tun seit Erschaffung der Welt!“ Hagen fühlt sich von meinen Worten ermuntert, uns sein neues Tattoo zu zeigen. Nachdem der promovierte Werkstoffwissenschaftler seine Schulter entblößt hat, kommt ein schwarz-roter Stern zum Vorschein, in dem sich Spitzhacke und Schaufel kreuzen. Die Tätowierung sieht aus wie das offizielle Emblem der Antifa Erzgebirge. „Du bist wirklich jung geblieben!“, bescheinige ich anerkennend.
Wir kehren in den Saal zurück und kämpfen uns durch die Menge nach vorn. Schon nach wenigen Metern ist meine Kleidung vom Bier durchtränkt, das von allen Seiten herniederregnet, die Schuhsohlen schmatzen auf dem Fußboden. Wir postieren uns rechts vor der Bühne. Von dort aus ist eine kleine Bar an der Seite gut zu erreichen, in deren Angebot jemand Pfefferminzlikör zum Preis von einem Euro entdeckt hat. Als Wolfgang Wendland und seine Kollegen die Bühne betreten, werden sie nicht nur mit Jubel begrüßt, es ist eine riesige Welle der Liebe, die erst die Band überflutet und dann den ganzen Raum füllt. Vom ersten Lied an singt das Publikum begeistert mit. Es dauert nicht lange, da gibt der Sänger dem vielfach aus dem Publikum geäußerten Wunsch nach, sich doch bitte zu entkleiden.
Auch Menschen, denen die Musik der Kassierer unbekannt ist, wissen doch zumeist um die Leidenschaft der Mitglieder dieser Band dafür, sich auf der Bühne auszuziehen. Manche halten dies für kindische Geschmacklosigkeit. Tatsächlich handelt es sich um subversive Praxis. Die Zeigefreudigkeit der Kassierer ist ein Akt der Befreiung nicht nur im persönlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Sinne. Denn es ist doch so: Obgleich das männliche Geschlecht die Fantasie und Wirklichkeit unserer Gesellschaft beherrscht, überall im Mittelpunkt steht oder zumindest hängt, ist es in der Öffentlichkeit so gut wie nie sichtbar. Der nackte weibliche Körper wird überall und andauernd gezeigt, muss zur Vermarktung der banalsten Produkte dienen oder ist selbst das Produkt. Der nackte Mann ist hingegen kaum irgendwo zu sehen. So ist der Penis eine Art verborgener Herrscher unserer Welt. Jeder weiß von ihm, alles gehorcht seinen Befehlen, alle richten sich nach seinen Wünschen. Aber der Penis ist nie gezwungen, in der Öffentlichkeit zu erscheinen und seine Macht zu rechtfertigen. Indem die Kassierer sich entkleiden, zeigen sie den Kaiser nackt. Ganz anschaulich führen sie vor Augen, dass die Männlichkeit in Wirklichkeit nicht prachtvoll und gebieterisch aussieht, sondern klein, ein bisschen albern und sogar verletzlich. Es ist ein Akt der Entzauberung im Dienste der Aufklärung, den man auch aus feministischer Perspektive wertschätzen sollte. Zumal sich nicht nur die Musiker im Laufe des Abends immer wieder entkleiden, viele männliche Zuschauer tun es ihnen auf der Bühne nach.
Die körperliche Nacktheit der Kassierer ist dabei nur die sichtbare Entsprechung ihres künstlerischen Prinzips. Deswegen wirkt die Entblößung auch so ungezwungen und naturgemäß. Auch in ihrer Musik entblößen die Kassierer die Männlichkeit. In ihren kunstvoll gereimten Versen zeigen sie die Plumpheit, Dummheit und Geilheit des Mannes ohne jede Verhüllung, ja sogar in grotesker Übertreibung. Selbst vermeintliche Stärke verwandelt sich in dieser Lyrik in Schwäche, wie in dem Kunstlied Großes Glied, in dem einem Mann gerade wegen seines hypertrophen Geschlechts der sexuelle Erfolg verwehrt bleibt. Damit aber untergraben die Kassierer alle Versuche einer Verherrlichung der Männlichkeit. Ihr Anliegen ist mithin ein emanzipatorisches, eminent antisexistisches. Dass die Musiker sich über diese Zusammenhänge völlig im Klaren sind, zeigt sich, als sie mit den Zuschauern den Kanon „Stimmt alle ein, Sexismus ist gemein!“ anstimmen, um dann bruchlos zu ihrem sexpositiven Lied Mach die Titten frei, ich will wichsen überzugehen. Kann es sein, dass einigen männlichen Zuhörern die höhere Ironie des Schauspiels entgeht? Gewiss. Aber das schadet wenig. Die exzessive Selbstverarschung mag bewusst oder unbewusst vonstattengehen, die Männlichkeit wird so oder so nachhaltig entgiftet. Hätte Aristoteles schon die Kassierer gekannt, es wäre ihm vielleicht gelungen, seine Theorie der Katharsis präziser zu fassen.
Während die Band spielt, besuche ich regelmäßig die kleine Bar neben der Bühne. Auch nachdem meine Geldvorräte aufgebraucht sind, muss ich nicht dürsten. Irgendjemand aus der Runde der Freunde sorgt immer wieder großzügig dafür, dass ein Gespann aus Bier und Pfeffi den Weg auch in meinen Rachen findet. Es gibt hier kein Mein und kein Dein mehr, der Kapitalismus muss sich wenigstens für ein paar Stunden geschlagen geben. Mein Orientierungsvermögen lässt nach, ich fange an, mich in der wogenden Masse treiben zu lassen. Es ist berauschend, solch eine gemeinschaftliche Entfesselung von Gefühlen zu erleben, gerade in Zeiten, in denen die linke Jugendkultur oft mehr Gefallen daran zu finden scheint, sich durch immer neue Regeln und Verbote selbst einzuschnüren.
Als das Konzert endet und sich die Menge auflöst, irre ich eine Weile ziellos umher. Ich sehe vermutlich aus wie jemand, der einen Schlängellauf um unsichtbare Slalomstangen absolviert. Dann endlich entdecke ich meine Rettung: Die Riesenfrau ragt aus der Menge der kleinen Männer. Sie weist mir den Weg zurück zu Hagen und den anderen Genossen. Einmal mehr bestätigt sich eine alte Weisheit: Ein Mann in Verwirrung tut gut daran, sich an einer Frau zu orientieren.