Alles ist scheiße. Die Rechten sind auf dem Vormarsch und ihre Gegner zeigen sich, wenn man’s noch schonend ausdrücken will, auch nicht gerade in Bestform. In solcher Lage stellen sich Zustände der Erschöpfung auch beim zähesten Streiter im Meinungskrieg ein. Er entschließt sich also, seine Einmannkaserne doch einmal für verdiente Ferien zu verlassen – Faschismus hin oder her. Zum Ziel der Reise wurde Slowenien erkoren, ein kleines Land, das bekannt vor allem dafür ist, oft mit der Slowakei verwechselt zu werden. Das unterläuft aber nur Ignoranten, alle anderen wissen ja, dass Slowenien die nördlichste der ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens ist, ein seit 1991 unabhängiger Staat, der Mitglied der Europäischen Union ist und sogar den Euro eingeführt hat, obwohl dafür eine Währung mit dem wunderschönen Namen Tolar für immer abtreten musste.
Der EuroCity-Zug, der meine Liebste und mich nach Slowenien bringt, ist ein Sinnbild der Europäischen Union. Er kommt verspätet, fährt langsam und besteht aus Teilen mehrerer Länder, die nicht recht zusammenpassen wollen. Das Personal wird an jeder Grenze ausgewechselt, sodass die neue Besatzung die Schuld für das herrschende Chaos immer den Leuten aus dem vorherigen Land zuschieben kann. Fahrradfahrer finden den versprochenen Fahrradwagen nicht, weil keiner existiert. Es gibt auch zu wenige Sitzplätze, von denen anscheinend einige auch noch doppelt reserviert sind, vielleicht um die Europäer auf diesem Weg miteinander in engeren Kontakt zu bringen. In unserem Abteil hat sich aus unseren beiden Sitzen ein junger Kroate ein Bett zusammengeschoben, auf dem er schlummert, mit lautem Techno in den Ohren. In einer seiner Wachphasen erzählt er uns, er arbeite für eine Metallbaufirma in der Nähe von Ulm und sei nun auf dem Weg in den Heimaturlaub. An Deutschland gefalle ihm besonders der gute Lohn, in Kroatien werde man selbst in ordentlichen Berufen mickrig bezahlt. Einziger Nachteil sei, dass er seine Freundin nur selten sehen könne. Gerne würde er in Deutschland eine schöne Wohnung finden, bislang habe er immer in Arbeiterheimen und ärmlichen Zimmern gelebt. Aber es sei schwer mit den Vermietern, viele wollten wohl keinen Ausländer. Weil wir dem arbeitsmüden Mann seinen Schlaf gönnen, verbringen wir einige Zeit im österreichischen Speisewagen. Viele Gerichte sind gerade aus, aber der Kellner ist so charmant unverschämt, wie man es von einem jungen Österreicher erwartet. Der Anblick der Alpengipfel, die während der Fahrt draußen vorbeiziehen, entschädigt ohnehin für alle Unbequemlichkeiten.
Die Hauptstadt Ljubljana macht auf den ersten Blick einen merkwürdigen Eindruck. Prachtvoll restaurierte Gebäude im Habsburgerstil mischen sich im Stadtbild mit bröckelnden sozialistischen Zweckbauten. Das öffentliche Leben wiederum wirkt westlicher als im Westen. Überall wird freier Netzzugang versprochen, im Nahverkehr kann man nur elektronisch bezahlen, die Lokale werben stolz mit ihren sieben Sorten selbstgebrautem Pale Ale. Das Stadtzentrum, gelegen an drei Brücken über ein kleines Flüsschen, quillt über vor Touristen. Es ist unmöglich, noch irgendwo einen freien Platz zu finden. Wir versorgen uns deshalb mit Nahrung an einer Imbissbude, wo eine aufgeregte, junge Chinesin Nudeln und Gemüse in Pappkartons füllt. Als wir ihr etwas Trinkgeld geben, besteht sie darauf, uns zum Ausgleich noch mehr Frühlingsrollen einzupacken. Essen können wir vor dem Laden im Freien, es ist auch nachts noch immer heiß. Ziemlich überfordert falle ich im Hotel in die Federn und plädiere für einen baldigen Ausflug in die Natur zum Zwecke der Entspannung.
Daheim tadelt mich die Frau oft, weil ich mich angeblich nicht genug bewege. Es überzeugt sie nicht, wenn ich ihr vorrechne, welche Strecke tagtäglich allein schon durch meine Wege vom Bett zum Kühlschrank zusammenkommt. Nun befinden wir uns in der Nähe von Bergen und es hilft alles nichts: Sie müssen bestiegen werden. Wir nehmen uns zuerst den Berg Krim vor, einen Gipfel der leichteren Kategorie. Mit dem Bus fahren wir in ein kleines Dörfchen zwischen gelben Feldern, wo hinter der alten Dorfkirche der Aufstieg durch dunklen Gebirgswald beginnt. Eintausend Meter sind keine sonderlich lange Strecke. Dies gilt allerdings nur, wenn sie in der Waagerechten zu bewältigen sind. In vertikaler Form nehmen sie einen ganz anderen Charakter an. Nach einhundert Metern überlege ich, inzwischen ein schwitzendes und schnaufendes Wrack, wie ich vor der Frau die feste Überzeugung verbergen kann, dass ich in Kürze sterben werde. Ich lasse erst einmal ein bisschen abreißen. Vielleicht sollte ich mich einfach auf den Waldboden legen und sanft entschlummern, als Allerletztes im Ohr den fröhlichen Gesang der Vögel. Der Gedanke ans Ende scheint mir weit tröstlicher als die Überlegung, dass auf mich, sollte ich nicht sterben, noch 900 weitere Höhenmeter warten.
Ich nehme einen Schluck aus der Wasserflasche und raffe mich doch noch einmal auf. Während ich weiter bergan wandere, versuche ich mich durch den Anblick der Natur für meine Schmerzen zu entschädigen. Besonders ins Auge fallen mir die Alpenveilchen am Wegesrand. Da es sich um die Lieblingsblume des gemeinen Ossis handelt, ist mir die Pflanze vertraut. Andererseits wirkt sie hier auf mich befremdlich, denn ich kenne sie nur aus schwarzen Plastikblumentöpfen. Das Alpenveilchen in freier Wildbahn zu erblicken, verstört mich. Meine Oma hatte stets mehrere Alpenveilchen auf dem Fensterbrett. Das Alpenveilchen war im Osten überhaupt in den neunziger Jahren überall zu sehen, in Wohnungen, Büros und Gaststätten. Und das, obwohl die Zeit nach der Wende eigentlich die der Kunststoffblumen war. Sie galten damals im Osten als schick und praktisch, denn sie sahen lebensecht aus, wenn man nicht allzu genau hinschaute, man brauchte sie aber nicht zu gießen. Allenfalls abstauben musste man sie gelegentlich. Die Blume aus Plastik war ein Symbol des Fortschritts. Unterdessen schlossen die Gärtnereien, auch die in unserem Dorf. Aber die Ossis waren stolz, dank des Kapitalismus endlich echten Kunststoff kaufen zu können und sich nicht mehr mit den sozialistischen Ersatzprodukten Plaste und Elaste begnügen zu müssen, die bekanntlich aus dem Knochenmehl rumänischer Waisenkinder hergestellt worden waren. Wie konnte das Alpenveilchen damals trotzdem Gnade finden? Wahrscheinlich, weil es mit seinen leuchtenden Blüten und seinen unnatürlich schön marmorierten Blättern aussah, als wäre es aus Plastik. So drückte man ein Auge zu und ließ auch mal was Lebendiges passieren.
Am Gipfel angelangt, werde ich für den Aufstieg entschädigt, weniger durch berauschenden Fernblick als durch eine Berghütte, in dem mir eine nette Wirtin Limonade verkauft. Ein alter Slowene in Wanderkluft sitzt neben uns. Ich bin erstaunt darüber, wie der Zausel es bis hier nach oben geschafft hat. Nach dem Essen spricht er uns an und erzählt, eigentlich möge er den Berg Krim gar nicht besonders. „Mir ist das hier zu niedrig, hier sind noch zu viele Bäume und Blumen“, sagt er. „Ich mag die Alpen. Hier hoch laufe ich bloß, um ein bisschen zu trainieren, bevor ich auf die richtigen Berge steige.“ Bevor ich den Alten erwürgen kann, gibt die Frau schon den Entschluss bekannt, auch wir wollten auf jeden Fall noch Alpengipfel besteigen.
Das Nationalmuseum in Ljubljana erläutert die Geschichte der Gegend, die heute Slowenien heißt, von der Steinzeit bis zum Mittelalter. Allerhand Schwerter, Münzen und sonstiges Blech. Dazu erzählen Karten und Texte davon, wie die Kelten von den Römern, die Römer von den Germanen, die Germanen von den Slawen unterjocht und wechselweise vertrieben oder eingeschmolzen worden sind. Bemerkenswerter finde ich die „Neandertalerflöte“, einen hohlen Tierknochen mit kreisrunden Löchern, der in einer slowenischen Höhle gefunden und auf ein Alter von 45000 Jahren datiert wurde. Im Internet kann man von wissenschaftlichen Spaßverderbern lesen, die nicht glauben wollen, dass es sich wirklich um eine Flöte handelt. Ich mag diesen Pedanten keinen Glauben schenken, denn die Vorstellung von einem Neandertaler, der sich in der Höhle eine Flöte bastelt, um seinen Kumpels am Lagerfeuer ein Liedchen zu pfeifen, ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Früher hielt man die Neandertaler ja für tumbe Keulenschwinger, die von den modernen Menschen mühelos verdrängt und ersetzt wurden. Die Genetik hat nun aber herausgefunden, dass auch in uns modernen Menschen noch beachtlich viel vom Neandertaler steckt. Es gilt wohl sogar die einleuchtende Faustregel: Je blonder, desto mehr Neandertal. Jedenfalls konnten nachweislich schon die Steinzeitmenschen nicht von der Völkermischung lassen, dieser großen Versuchung, gegen die uns nun endlich die Faschisten wappnen wollen.
Vorm Museum ohrfeige ich mich selbst, denn ich hatte mir ja fest vorgenommen, im Urlaub nicht an Politik zu denken. Aber das ist schwer. Man müsste die Augen fest geschlossen halten. Denn Grafitti gibt es auch in Ljubljana, zum Beispiel liest man an der Wand eines Kulturzentrums: „LGBT je degeneracija, degradacija, dekadenca“, was sich ins Deutsche wohl so übersetzen lässt: „Die Bewegung der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgeschlechtlichen ist Entartung, Erniedrigung, Verfall“. Immerhin hat ein gegnerischer Sprüher diese These rot durchgestrichen und durch die schlichte Botschaft „Pro Homo“ korrigiert. Ich sehe langsam ein: Wenn ich den politischen Kämpfen unserer Zeit entkommen wollte, müsste ich wohl Urlaub in der Antarktis oder auf dem Mond machen. Vielleicht kann man aus der Allgegenwärtigkeit des Streits zumindest einen Trost ziehen: Wenn überall in Europa, ja beinahe auf der ganzen Welt von den gleichen Parteien die gleichen Kämpfe ausgefochten werden, dann ist die Weltgesellschaft kein utopisches Phantom mehr, sondern inzwischen die Wirklichkeit.
Mit einer romantisch rostigen Bimmelbahn reisen wir von Ljubljana weiter in das kleine Städtchen Kamnik am Fuß der Alpen. Unsere Unterkunft befindet sich in den Zimmern eines Gasthauses, in dessen Schankraum sich die örtlichen Biertrinker versammeln. Die Pension liegt unmittelbar neben dem Busbahnhof, sodass wir am nächsten Morgen mühelos in die Berge fahren können. In den Bus steigt an einer Dorfhaltstelle auch ein alter, grauhaariger Mann mit freundlichem Gesicht, der mir merkwürdig bekannt vorkommt. Er trägt das Gewand eines Hirten, hat einen Wanderstab bei sich und an seinem Hut einen Strauß mit Wiesenblumen befestigt. Endlich fällt es mir ein: Ein Foto des Mannes findet sich als Illustration in unserem Reiseführer. Er trägt seine Kluft mit einer Würde, die mich vermuten lässt, dass er kein Hirt, sondern ein erfahrener Hirtendarsteller ist. Jedenfalls hat er dasselbe Ziel wie wir: die Velika Planina, eine Hochfläche mit großen Almen und Hirtensiedlungen. Er nimmt allerdings die Seilbahn, während wir wieder zu Fuß bergan steigen.
Erstaunlicherweise fällt mir der Weg nach oben diesmal wesentlich leichter, offenbar komme ich langsam in Form. Am Wegesrand sehe ich prächtigste Steinpilze, aber da wir nicht über eine Küche verfügen, schone ich sie. Obwohl ich mir mit Immanuel Kant einzureden versuche, der wahre Genuss der Schönheit bestehe im interesselosen Wohlgefallen, bleibt Unzufriedenheit zurück. Wie gern hätte ich diese Pilze auch mit Zunge und Gaumen, nicht nur mit den Augen genossen! Die Frau fragt mich, wieso ich denn beim Wandern ständig in die Hände klatsche. Ich erläutere ihr, dies sei ein probates Mittel gegen die plötzliche, vielleicht verhängnisvolle Begegnung mit den in Slowenien durchaus heimischen Braunbären. Die Frau lacht mich aus. Ich nehme es klaglos hin. Wir überleben auch diesen Tag im Wald und es genügt mir, dass ich weiß, wem wir das zu verdanken haben.
Oben auf der Hochfläche angekommen, finden wir uns sogleich auf einer Weide zwischen weißbraunen Rindern wieder. Das Geläut ihrer Glocken beschallt die ganze Alm. Einige schindelgedeckte Hütten stehen auf dem Grün, sonst nichts. Schüchtern bahnen wir uns den Weg durch die Herde. Die Kühe schauen uns etwas misstrauisch, aber nicht ängstlich an. Gewiss sind sie Wanderer gewohnt. Ich erinnere mich an das Gedicht Gang durch die Kuhherde, geschrieben vom Kabarettisten Werner Finck, der wie ich in Görlitz geboren wurde:
Nächtlich auf der dunklen Weide
Grasen viele große Kühe,
Kauen,
Schauen,
Tun mir nichts zuleide,
Während ich mich durch sie durch bemühe.Wenn sie wollten, könnten sie mich überrennen,
Doch sie werden nicht dran denken,
Da sie
Quasi
Gar kein Denken kennen.
Außerdem sind sie nicht abzulenken.Und so geh’ ich lautlos durch die Herde
Auf dem Gras, daran sie kauen,
Eilig,
Weil ich
Plötzlich bange werde,
Dass sie meine schwache Position durchschauen.
Warum kommt mir dieses vermaledeite Poem in den Sinn? Finck erzählte 1933 auf der Bühne seines Kabaretts natürlich nicht von Rindern, sondern von den faschistischen Hornochsen, die eben die Macht übernommen hatten. Ich konzentriere mich wieder auf die wirklichen Kühe, um die allegorischen zu vergessen. Kühe sind wohlgeformte, auf ihre Art anmutige Tiere, vielleicht nicht allzu schlau, aber friedlich. Sie haben es nicht verdient, mit Faschisten in Verbindung gebracht zu werden.
In der Mitte der Hochfläche, wo sich Gasthäuser, eine kleine Bergkapelle und Sesselliftstationen befinden, geht es ziemlich belebt zu. Fußlahme und Drückeberger, die mit dem Lift oder dem Auto bis hierher gelangt sind, spazieren frohgemut im Kreis, genießen die Aussicht auf die benachbarten Alpengipfel und fotografieren Rinder. Eine erkennbar deutsche Familie kommt uns entgegen, vorneweg der Vater mit seinem Sohn, wenige Schritte dahinter Mutter und Tochter. Der Vater trägt einen Alpenhut und versucht zu jodeln, weil er der festen Überzeugung ist, dies sei äußerst witzig. Mutter und Tochter verdrehen peinlich berührt die Augen und auch auf dem Gesicht des Sohnes zeichnet sich deutlich ein einziger Gedanke ab: Scheiße, das ist also der Typ, der mich gezeugt hat.
Wir suchen eines der Gasthäuser auf, ich esse eine slowenische Pilzsuppe und spreche maßvoll dem Bier zu. Währenddessen beobachte ich seltsame Krähenvögel, die sich zwischen den Almhütten geschickt von den Aufwinden tragen lassen und immerzu nach Nahrung spähen, die sich auf dem Boden erhaschen lassen könnte. Meine Vogel-App mit dem Namen „Die Vogel App“ verrät mir, dass es sich um Alpendohlen handelt. Bei dieser Gelegenheit fällt mir auf, dass man in Slowenien selbst auf Berggipfeln ins Internet gelangen kann, während man in Deutschland schon am Rand der Hauptstadt des Empfangs verlustig geht. Das neue Europa scheint das alte doch in manchen Bereichen zu überholen.
Das Nachtleben des Städtchens Kamnik ist überschaubar. Aber ich spüre zielsicher das beste Lokal der Stadt auf. Das Café Racer am Hauptplatz wirbt offenbar besonders um Biker. Immer wieder stellen junge Männer, aber auch Frauen ihre Maschinen neben dem Café ab, um sich ein Getränk zu gönnen. (Im Internet werde ich später lesen, dass englische Rock’n’Roller in den Sechzigern die frisierten Motorräder, mit denen sie Sonntagsausflüge machten, „Café Racer“ nannten. Das Café Racer hat sich also nach einer Sorte von Motorrädern benannt, die ihren Namen Cafés verdankt – ein Taufkreislauf von geradezu philosophischer Qualität.) Obwohl ich in meiner Jugend darauf verzichtet habe, den Mopedführerschein zu erwerben, erhalte auch ich Bier. Bedient werden wir vom Besitzer des Cafés, einem agilen Mann mittleren Alters mit zottigen Haaren. Er gehört zu den Menschen, die erkennbar für den Beruf des Wirtes geboren wurden: Es gibt keinen Gast, den er nicht in einen kleinen Plausch verwickelte. Die Frau meint, er habe die Ausstrahlung eines Weltenbummlers, der nach Jahren der Wanderschaft in die Heimat zurückgekehrt sei. Sie muss es wissen, denn sie war selbst in ihrer Jugend viel auf dem Globus unterwegs. Als der Wirt erfährt, dass wir aus Berlin in sein kleines Café geraten sind, ist er hellauf begeistert und fragt uns erst einmal aus. Er entschuldigt sich für die Schläfrigkeit seiner Heimatstadt und scheint ein wenig neidisch auf die Besucher aus der Metropole. Es ist seltsam, ich blicke in letzter Zeit immer öfter mit Neid auf Menschen wie den Kamniker Biker-Wirt, die auf kleinem Raum ihre Idee verwirklichen und das Leben einiger Leute schöner machen, statt sich in der Großstadt im Kampf gegen die Gleichgültigkeit zu vergeuden. Als wir am nächsten Tag noch einmal im Café Racer einrücken, schenkt uns der Wirt am Ende die Zeche zum Dank für unseren Besuch. Ich beschließe, mich später zu revanchieren, indem ich sein Lokal literarisch ins kulturelle Gedächtnis der Menschheit befördere.
Die letzten Tage unserer Reise verbringen wir in Maribor, der zweitgrößten Stadt Sloweniens im Osten des Landes. Die Stadt wirkt noch barocker und österreichischer als die Hauptstadt. In der hübschen Altstadt sitzen Einheimische und Touristen beisammen, trinken Kaffee und schlecken Eis. Der junge Kioskverkäufer im Stadtpark versichert uns, in diesem Teil Sloweniens könne man ruhig Deutsch sprechen, jeder hier verstehe das. Nach dem Besuch im Museum der nationalen Befreiung wundere ich mich dann allerdings darüber, dass irgendjemand hier noch Lust hat, Deutsch zu sprechen. Aber das gilt ja im Grunde fast für ganz Europa. Ein Deutscher, den in der Ferne das Heimweh nach dem Faschismus packt, findet in fast jeder europäischen Stadt ein Museum, in dem er sich über das historische Treiben seiner faschistischen Landsleute in der Region unterrichten kann. In Slowenien, dessen nördlichen Teil die Deutschen als „Untersteiermark“ für sich beanspruchten, planten die Nazis im Zweiten Weltkrieg eine großangelegte Germanisierung. Die Slowenen wehrten sich gegen Vertreibung und Ermordung durch einen Partisanenkrieg. In der Ausstellung des Museums sind die Waldhütten nachgebaut, in denen Ärzte und Krankenschwestern während des Krieges heimlich verwundete Kämpfer versorgten. Entdeckte die Wehrmacht so ein geheimes Lazarett, wurden meist alle Patienten und ihre Helfer an Ort und Stelle umgebracht. Ich kann mir nicht helfen, es fällt mir noch schwer, die Forderung der neuen deutschen Faschisten zu erfüllen, auf solche Leistungen unserer Soldaten stolz zu sein. Aber die Zeiten ändern sich, wir müssen alle umdenken.
Auf der Heimfahrt teilen wir im Zug das Abteil mit einer deutsch-amerikanischen Familie. Die drei jungen Söhne wechseln mühelos vom Englischen ins Deutsche und zurück. Die Eltern sprechen ab und zu Spanisch, vielleicht dann, wenn sie nicht belauscht werden möchten. Wir erfahren trotzdem, dass die Familie nach ihrem Aufenthalt in Slowenien nun nach Bayern fährt, wo die Eltern der Mutter beheimatet sind. Der amerikanische Vater ist geradezu der Prototyp des Daddys: ein großer, stämmiger Mann mit ordentlichem Bauch, Halbglatze und Oberarmen so dick wie Laternenpfähle. Mit seinen drei Kindern geht er zärtlich und doch bestimmt um, er muntert sie auf und hält sie im Zaum. Als sein ältester Sohn vorführt, wie er einen Rubik-Würfel in zwei Minuten lösen kann, staunt er nicht nur wie wir anderen auch, sondern lässt sich geduldig die Technik von seinem Kind erklären, um sie ebenfalls zu erlernen. In Salzburg springt er während eines Zwischenhaltes aus dem Zug, um Wasser für die durstige Familie zu besorgen. Als er zurückkehrt, empört er sich: „Der ganze Bahnhof ist voller Nazis! Und niemand tut etwas! Sie grölen herum und heben ihre Arme! Das können doch nur Nazis sein!“ Ich überlege, ob ich ihm darlegen sollte, dass er vielleicht nur die Gesänge und Gesten der Fans von Austria Salzburg missverstanden hat, die gerade den Bahnhof bevölkern. Aber dann lasse ich es doch. Woher weiß ich denn, dass der Bahnhof nicht wirklich voller Nazis ist, die machen, was sie wollen, weil niemand sie daran hindert? Undenkbar scheint das ja in unseren Zeiten nicht mehr. Ich entwickle spontan den Wunsch, von dem amerikanischen Mustervati adoptiert zu werden. Ja, ich wünschte mir, er könnte gleich ganz Europa in seine multikulturelle Familie aufnehmen. Denn er besitzt das, was wir alle in Zukunft brauchen werden, um uns zu schützen: Klugheit, Gefühl und Muskeln.