Zu den leider nicht allzu vielen unabhängigen Verlagen in Dresden mit literarischem Anspruch und überregionaler Bedeutung gehört die edition AZUR. Im Jahr 2010 erschien dort die Anthologie Neue deutsche Aphorismen, die ich allen Freunden dieser Gattung der nicht-fiktionalen Kürzestprosa ans Herz legen möchte. Das Buch ist sachlich und gleichzeitig schick gestaltet, die Herausgeber Tobias Grüterich, Alexander Eilers und Eva Annabelle Blume haben in zweijähriger Kleinarbeit eine Auswahl der besten Aphorismen der letzten 25 Jahre zusammengestellt. 160000 Aphorismen haben diese Enthusiasten gelesen, um daraus 1308 Stücke auszuwählen. Allein schon diese Quantität bestätigt die Ansicht der Herausgeber, dass der Aphorismus keineswegs als tote Gattung der deutschen Literatur zu betrachten sei.
Allerdings fragte ich mich bei der Lektüre, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, nicht weniger als 91 (!) Autoren in die Sammlung einzubeziehen – zumal nicht wirklich alle berücksichtigten Aphoristiker mir „maßgeblich“ erschienen, wie es der Klappentext verspricht. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, halb so vielen Autoren doppelt so viel Raum zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise wäre der individuelle Charakter der einzelnen Protagonisten sicher sichtbarer geworden, als es jetzt vielfach der Fall ist. Und man hätte auch längere Aphorismen berücksichtigen können, während jetzt fast ausschließlich Ein-Satz-Aphorismen abgedruckt sind, was die Lektüre wenig abwechslungsreich macht.
Was den Inhalt angeht, so sind die Geschmäcker sicher verschieden – für meinen enthält die Anthologie speziell bei den älteren Jahrgängen zuviel Geistesaristokratismus, Kulturkritik und deutschen Tiefsinn über „das Leben“ und „die Wahrheit“. An lebendiger Erfahrung und originellem Witz mangelt es manchen Beiträgern hingegen leider offenkundig. Ein wenig scheinen auch die Herausgeber vom Pessimismus infiziert, klagen sie doch im Nachwort über das Verschwinden der Aphorismen aus der Presse, ohne im Gegenzug die neuen Möglichkeiten zu erwähnen, die das Internet bietet. (Ich denke hier zum Beispiel an die zahlreichen jungen Twitter-Aphoristiker wie den wunderbaren Kollegen André Herrmann.) Dass jeder Leser jeder Anthologie immer Namen vermissen wird, liegt in der Natur der Sache. Ich suchte zum Beispiel vergebens nach Ludger Lütkehaus, Thomas Kapielski und Max Goldt.
Trotz all dieser kleinen Einwände sei zum Schluss noch mal ausdrücklich versichert: Die Sammlung Neue Deutsche Aphorismen ist durchweg lesenswert und erschließt in beeindruckender Pionierarbeit ein literarisches Feld, das hoffentlich noch viele Früchte tragen wird.
Neue deutsche Aphorismen. Eine Anthologie. Hg. von Tobias Grüterich, Alexander Eilers und Eva Annabelle Blume. Dresden: edition AZUR, 2010. 288 Seiten. 20 Euro.