Provokation ist bekanntlich ein Werk Einzelner, die sich sowohl für einzigartig unter der Sonne halten (was sie auch sind, womit sie sich aber nicht grundsätzlich von anderen Lebensformen unterscheiden), als auch über ein pädagogisches Sendungsbewusstsein (ausgehend von ihrer Einzigartigkeit) verfügen, allerdings nicht frei verfügen, sondern es dann zum Ausbruch bringen, wenn sie sich in einer Gruppe nicht wohl fühlen und sich nicht anpassen wollen.
Bei Jugendlichen entäußert sich provokantes Verhalten vor allem in der Pubertät, bei Erwachsenen gibt es keine spezifische Zeit, dort bricht es hin und wieder mehr oder weniger stark aus. Dieses Verhalten kann viele Gesichter haben, die wir unter dem Begriff illusionistisch-unkonventionelle Nichtanpassung zusammen fassen wollen.
Eine besonders extrovertierte Form von Provokation ist sicherlich Terrorismus. Die Grundhaltung ist dieselbe, nur die Mittel sind, nun ja, schlagkräftiger eindrücklicher.
In Kleinstädten ist Provokation aufgrund fehlender Menschen und einer sanguinischen Zufriedenheit weitaus auffälliger, weil seltener, bunte Haare und zerrissene Kleider reichen meist schon aus. Wem würde das aber in einer Großstadt auffallen? Also muss sich der Provokateur, sei er nun infantil, pubertär oder einfach nur bekloppt noch nicht angekommen, neue Wege suchen, z.B. Bomben bauen oder Drogen nehmen und darüber reden, Bomben zu bauen. Der zweite Weg wird glücklicherweise viel öfter betreten als der erste.
Nehmen wir nun eine Stadt wie Leipzig und einen Kellerclub wie das „Ilses Erika“, welches am 01.10.08 seinen 10. Geburtstag feierte, eine Riesensause veranstaltete, inklusive Buffet und Sektempfang, sodass fast alle Gäste am Ende glücklich nach Hause wankten. Fast alle?
Eine kleine Bastion leistete leidenschaftlich Widerstand, es waren leider wieder einmal Leute von der Spree (genau dort, wo sie mit der Havel ein liebevolles Geplänkel anstimmt, als wären sie zwei Schlangen, die das Spiel „Ich’n Biss, du’n Biss“ spielen: die Rede ist von Berlin).
Es waren einige Herren und zwei Damen, welche von Anfang an derart laut, betrunken und selbstsicher auftraten (also nicht die normale, sondern diese Form der Selbstsicherheit, die bei genauem Hinsehen das Gegenteil sichtbar werden lässt), dass man schlussfolgern musste, sie seien bis zum Schlussstein voll mit Kokain.
Den lakonischen anderen Gästen war deren exaltierte Laune kein Hindernis zur eigenen guten, es war immerhin Geburtstag und ein paar Randaleure gibt es immer, die ziehen meist nach ein paar Stunden weiter, um es in einem Elektroschuppen bis zum nächsten Nachmittag noch mal richtig krachen zu lassen.
Gegen 1 Uhr spielte die bekannte Elektro-Dance-Gruppe „Mitropa Bounce“ (bestehend aus den Besitzern und Mitarbeitern des Clubs) zum Tanze auf und zwar ausschließlich Cover von bekannten Hits mit leicht abgewandelten Texten. So wurde aus „Ruby“ der Gruppe Kaiser Chiefs, „Mutti“, bzw. „Muddi, Muddi, Muddi, Muddi – Ohohohohoho“, denn die namensgebenden Mütter der Chefs, Ilse und Erika waren in großer Zahl anwesend.
Die gute Laune sackte ab, weil die Berliner Clique, in der ersten Reihe postiert, um jeden Preis auffallen wollte. Vermutlich sagte ihnen ihr Unterbewusstsein, dass die Party, die hier gerade lief, nicht an sie adressiert war, dass alle anderen um sie herum die Insider von der Bühne feierten, die sie nicht verstanden und aus diesem Grunde eine unsichtbare Mauer hochgezogen wurde zwischen den Immer-Da-Seienden und den Durch-Zufall-Reinschneienden.
Sie selbst sagten im später stattfindenden Publikumsgespräch, dass sie sich provoziert fühlten von der eindeutigen Parodie, welche auf der Bühne vor sich ging, mit Hack und Perücken, Zeltstoffanzügen und schlechten Reimen, aber ohne Aussagen, wie man sie ja immer treffen müsse, wenn man parodiert, so zumindest die Meinung der gekränkten Großstädter.
Immer öfter griffen sie den Akteuren in die Beine, rissen die Mikrofone an sich, bespritzten alle mit Bier und schrien in einem fort: „Ihr Fotzen. Ihr Spießer. Ihr Faschisten.“
Natürlich rauchten sie unentwegt drinnen, denn sie waren ja Provokateure und Provokateure schränken das Recht anderer sehr gerne ein, selbst wenn es sich dabei (und auch bei allem anderen in ihrem speziellen Fall) um die Einschränkung der Freiheit der Leute handelte, die die Party veranstalteten, aber was soll man sagen: Jugendliche lassen sich schließlich auch die Nippel mit dem Geld von Mutti piercen.
Eine Interpretation von Mitropa Bounce basierte auf der Verwendung von 500gr Hackfleisch auf der Bühne, was die Berliner dazu veranlasste, in einem unbeobachteten Moment, die halbvolle Packung zu nehmen, mit großen Augen hinein zu rotzen und sie dann wieder zurück zu geben, frei nach dem Motto: „Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus.“
Nach geraumer Zeit wurde es den Artisten zu viel, sie baten erst höflich (indem sie den Mädels Bier schenkten), dann bestimmt (indem sie den Mädels kein Bier mehr schenkten) und schließlich -sagen wir mal- robust (indem sie die Mädels von der Bühne schoben und sie mit allerlei nicht sorgfältig ausgewählten Begriffen bezeichneten) um Respekt. Es gab ein großes Hallo und schließlich verließen die zugekoksten Schnicksen samt Anhang unter frenetischem Applaus (für das Verlassen) das Etablissement.
Nun könnte man sagen, es wäre alles gut. Aber das ist es nicht.
Sie verstanden sich nämlich als Sieger der Auseinandersetzung, als Märtyrer, als Punks, die am Ende nur mit Gewalt von der Provokation abgehalten werden konnten.
Im Publikumsgespräch wurde deutlich, dass sie nur ein bisschen Spaß wollten, das wäre in Berlin eben so, Provokation erzeuge Gegenprovokation, alle anderen, welche nur herum stünden und unreflektiert zur Dummen-Musik mit dem Kopf wippen würden, seien Spießer, charakterlose Allerweltskleinstädter, die keine Ahnung vom Leben hätten.
Als ich das letzte Mal so besoffen selbstgerecht war, zur Flut in Dresden im Flower Power 2002, mit einer Flasche Portwein im Kopf, habe ich dem Türsteher eine geknallt und bin daraufhin verprügelt worden, schlief dann an einem öffentlichen Platz auf einer Bank bis zum nächsten Morgen und dachte die folgenden zwei Jahre, ich hätte eine Bekannte von mir sexuell belästigt, hätte es nur wieder vergessen. Da war ich 18. Zeit der Prüfungen.
Da gab es noch keine Flash-Mobs und keine Billigflieger und die After-Hour-Partys gingen nur bis früh um fünf. Heute ist selbst der nichtssagendste, zugeballertste Party-Gänger in den Augen der Provokateure ein kantianischer Künstler und Revolutionär, nur weil er den Leuten auf der Bühne zuschreit, dass sie scheiße sind.
Reaktion muss immer laut sein, immer auffallen, sonst existiert sie ja nicht so richtig, das ist ja auch im Sinne Brechts, nicht immer nur alles hin nehmen, was einem geboten wird, auch schon mal ein bisschen drüber nach denken.
Leider bohren sie hier einfach ein wenig ins Leere, diese unglücklichen Gestalten. Bei der Aufführung handelte es sich um Trash, was natürlich keine Immunitätsbescheinigung ist, viel mehr noch, es handelte sich um Insider-Trash. Jedem war klar, dass hier keine neue Kunstform geschaffen würde. Außer ihnen. Insofern waren sie in ihrer Ignoranz für die Gegebenheiten bestimmter Situationen die aus einer bestimmten „Nabel-der-Welt“-Großspurigkeit resultiert selbst das, was sie immer anprangerten: berechenbar und spießig.
Sie haben Angst vor Regeln, haben Angst, in der Masse zu sein und wünschen sich doch so sehr, selbst eine Masse zu bilden.
Sie schaffen nur dabei nichts und weil sie das irgendwann gemerkt haben, hauen sie sich Koks hinter die Kiemen, dass es nur so scheppert.
Nichts kann normal sein, alles muss aufregen und sie sind das Auge des Orkans, der Mittelpunkt.
Nur fällt es schwer aufzufallen, wenn man gar nicht auffällt. Die Welt reflektierter Erwachsener besteht aus Ideen, nicht aus Kleidung. Und wenn man merkt, dass man keine Idee ist oder keine Idee hat, wird man radikal. Wenn in der Gruppe, der man sich angeschlossen hat, nur ein paar sind, die keine Skrupel haben und über eine gewisse selbstgerechte Ignoranz gepaart mit Autoritätswut verfügen, wird daraus Terrorismus. Wenn alle nur ein bisschen Spaß haben wollen, wird daraus nichts.
Und in 20 Jahren, wenn sie diese Phase des Wehrens gegen das Bewusstwerden fehlender Individualität, gegen das langsame Übergehen in die Masse hinter sich haben, werden sie ihre Gleichheit durch selbst designte Möbel und einen eigenen Klingelton zu kaschieren versuchen.
All das zeugt vor allem von einem: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit im Spiegel der Bedeutungslosigkeit derer, die sich längst damit arrangiert haben und damit etwas sind. Vielleicht sogar glücklich.
A propos bedeutungslos: Im Namen des Teams Totale Zerstörung empfehle ich hiermit einen uns immer besser gefallenden (und damit für uns bedeutender werdenden) Berliner: Sido, dessen Lied Carmen (dirty version) eine sehr gelungene Pop-Persiflage darstellt. Unbedingt reinziehen!
Ich hab’s ja immer schon gesagt, dass Sido in seiner Gesamtheit ein unbewusst zeitkritisches Phänomen ist ;-)
Kopfbeschmerzten Grußes,
André
Aber ob Sido das auch weiß?