Selten hört man davon, dass der Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter sich mit einem Beitrag zur Quantenphysik zu Wort meldete. Ebenso ungewöhnlich wäre es, wenn die Gewerkschaft der Polizei eine Stellungnahme zur Verbesserung der Hygiene in deutschen Krankenhäusern abgäbe. Nur die Kirchen leiten aus ihrem göttlichen Auftrag auch das Recht und die Pflicht ab, sich ungefragt zu allen Fragen zu äußern, die sie nichts angehen und von denen sie nichts verstehen. Statt beim lieben Gott ein gutes Wort für uns schlimme Sünder einzulegen, haben der Rat der Evangelischen Kirche und die katholische Deutsche Bischofskonferenz zusammen einen „Impulstext“ mit dem Titel „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ fabriziert. Da der Glaube ans Jenseits aus der Mode kommt, müssen die Kirchen sich offenbar neue Beschäftigungsfelder suchen, um den Kontakt zu ihren zahlenden Kunden nicht zu verlieren. Das neue „Sozialwort“ mag wirkungslos verhallen, als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für einige Theologen hat es seinen Zweck schon erfüllt.
Was kann uns die Bibel über unsere gesellschaftlichen Probleme lehren? Vermutlich wenig. Denn dieses Buch wurde geschrieben, lange bevor unsere Gesellschaft überhaupt existierte. Ein paar Zitate aus der Heiligen Schrift am Anfang des Kirchenwortes sind denn auch nicht mehr als Schmuck. Im Rest des Textes greifen die Autoren auf den politischen Jargon zurück. Und sie tun dies bravourös: Keine Phrase fehlt. Die „Kultur der Verantwortung“ hat ihren Auftritt wie die „Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“. Denn es gilt: „Bildungspolitik ist vorsorgende Sozialpolitik.“ Der Leser fiebert mit, wenn die „kapitalgedeckte Säule“ den Kampf gegen „Versorgungslücken durch Pflegezeiten“ aufnimmt. Der ganze Text ginge als Verlautbarung der Großen Koalition durch, der nun offenbar auch die christlichen Kirchen beigetreten sind. Die analytische Schärfe des Papiers beeindruckt dabei durchweg: Wer hätte etwa gedacht, dass Armut „finanzielle Probleme zur Folge“ haben könnte?
Ein passenderer Titel für das Sozialwort der Kirchen gewesen wäre: „Sowohl als auch. Das Unversöhnliche versöhnen – um des lieben Friedens willen!“ Nirgends existieren Widersprüche, bloß das „Gleichgewicht“ ist hier und da verloren gegangen. Man höre: „Bei aller positiven Bedeutung der Finanzmärkte, die die Entwicklung vieler Länder erst ermöglichen, ist aber durch ihre gegenwärtige Funktionsweise die Welt nicht nur nicht sicherer, sondern im Gegenteil fragiler geworden.“ Die positive Bedeutung der Finanzmärkte besteht offenbar darin, dass sie die Welt unsicherer machen. Andernorts liest man: „In ökologischer Hinsicht ist die Belastbarkeitsgrenze unseres Planeten erreicht.“ Das hindert die Theologen aber nicht daran, zugleich nach „Wachstum“ zu rufen. Die Kirchen möchten ökonomische Expansion, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit miteinander vereinen. Das aber ist nicht die „konfliktreiche Zielpluralität der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft“, sondern etwas viel Schlichteres: ein Unding. Bei der Verwirklichung des Unmöglichen wird freilich Deutschland vorangehen, damit am deutschen Wesen wieder einmal die Welt genese: „Wenn Deutschland dabei ein wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort bleibt und das deutsche Sozialmodell allgemeinen Wohlstands nachhaltig gestaltet werden kann, kann die Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft zu einem Vorbild und Modell für andere Staaten werden.“
Es soll, so munkelt man, in finsterer Vergangenheit auch einmal so etwas wie christliche Sozialisten gegeben haben. Sie wurden aber nach ihrem ruhmlosen Tod außerhalb der Friedhofmauern bestattet. Zur Marktwirtschaft, die nicht bei ihrem Namen Kapitalismus genannt wird, gibt es nach Ansicht der Kirchen „keine überzeugende Alternative“. So bleibt nach intellektueller Selbstverstümmelung nur die triste Routine, am Bestehenden zu mäkeln, ohne eine andere Welt auch nur denken zu können. Dass es in einer Gesellschaft Arme und Reiche gibt, ist für die Kirchen selbstverständlich. „Wer in Deutschland arm ist, bleibt allzu oft arm.“ Wenn es ein bisschen seltener geschähe, wäre die Sache also wohl in Ordnung. Ausdrücklich belobigt wird denn auch die Methode des Peter Hartz, „durch kürzere Bezugsdauern und die Senkung der Zumutbarkeitsgrenzen den Druck zu erhöhen, eine Beschäftigung aufzunehmen“. Denn: „Partizipation am Arbeitsmarkt und Teilhabe an der Erwerbsarbeit sind wesentlicher Ausdruck gesellschaftlicher Inklusion.“ In der Tat: Wie ausgeschlossen fühlte sich die Putzfrau bei der Deutschen Bank, wenn sie nicht mehr die Schüsseln scheuern dürfte, in denen die Manager ihre Geschäfte erledigt haben. Die Theologen setzen sich sogar den alten liberalen Hut von der „Chancengerechtigkeit“ auf, welche die „Verteilungsgerechtigkeit“ ersetzen müsse. Bekanntlich verteilte ja auch Jesus Brot und Fisch nicht einfach wahllos unter den Bedürftigen, sondern organisierte einen fairen Wettbewerb und belohnte dann den Sieger.
Kein Elend bringt die Überzeugung der Theologen zum Wanken, „das moralisch Richtige“ sei „zugleich das volkswirtschaftlich Effiziente“. Dass die Moral gegen die Ökonomie durchzusetzen wäre, ist für die deutschen Wohlstandschristen undenkbar geworden. Stattdessen behelfen sie sich mit Beschwörungsformeln: „Die Aufgabe der Wirtschaft sollte es sein, in bestmöglicher Weise die materiellen Grundlagen für ein gutes, selbstbestimmtes Leben aller zur Verfügung zu stellen.“ Wenn sich die Wirtschaft doch nur ihrer Pflicht bewusst würde! „Wirtschaftliche Aktivitäten stellen keinen Selbstzweck dar und sind nie nur eigennutzorientiert zu betrachten.“ Wenn sich die Wölfe doch nur die Zähne ziehen ließen! „Insbesondere die Finanzmärkte müssen sich wieder in Richtung einer dienenden Rolle wandeln.“ Wenn doch die Herrschenden sich nur auf ihre dienende Rolle besännen!
Die sonntägliche Predigt ist beendet, die Herrschaften erheben sich von den Kirchenbänken. Am Ausgang schütteln sie dem Herrn Pfarrer noch einmal die Hand, bevor sie sich milde lächelnd ans Steuer ihres Wagens setzen. Am Montag beginnt wieder das wirkliche Leben.