Briefe aus Berlin (1)

Ein gebräuchlicher Kalenderspruch behauptet, man lerne erst in der Fremde die Vorzüge der Heimat richtig zu schätzen. Ich stelle aber zunächst fest, dass ich in der Fremde die Vorzüge der Fremde zu schätzen lerne und mir die Mängel der Heimat noch deutlicher bewusst werden. Es sind dabei die kleinen Dinge, die mich zur Zeit als Berlin-Anfänger bezaubern.

Welch Freude ist es zum Beispiel, den Senderdurchlauf des Radios zu betätigen und eine Frequenz nach der anderen zu finden, der man gerne lauschen mag. Was Berlinern selbstverständlich sein wird, erscheint mir als Erlösung: nimmermehr dem von schlimmsten Funklöchern betriebenen, absolut niveau-, fantasie- und geschmacklosen Mitteldeutschen Rundfunk begegnen zu müssen.

Was für ein befreiendes Gefühl auch, in einer Stadt zu leben, in der auch Nicht-Arier zu Hause sind! In der Dresdner Altstadt zog jeder dunkelhäutige Mann, jede Frau mit Kopftuch die Blicke auf sich wie ein dreischwänziger Besucher von einem anderen Stern. Hier tummeln sich alle Formen und Farben munter durcheinander. Um nicht ins Idealisieren zu geraten, sei aber auch erwähnt, dass man auch öfter als in Dresden Alltagsnazis zu Gesicht bekommt. Aber Kontraste aller Art erfreuen mir das Auge, solange keine Faust darin landet.

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