Der Soundtrack meines Lebens

Mit zunehmendem Alter, so muss ich an dieser Stelle bekennen, wird mir die Redensart, nach der Menschen ihre Lieblingslieder als Soundtrack ihres Lebens bezeichnen, immer suspekter. Womit ich ausdrücklich nichts gegen die Band The Soundtrack of our Lives gesagt haben möchte. Was mich stört, ist auch nicht die allzu offensichtliche Tatsache, dass es sich bei dieser Lebensauffassung offensichtlich um ein Ergebnis generationenübergreifender Gehirnwäsche durch die Musikindustrie handelt. Wahrscheinlich wird uns auch die Verlagswirtschaft bald davon zu überzeugen versuchen, dass wir dringend das Buch zum unserem Leben erwerben müssen. Und das wird nicht die Bibel sein, sondern vermutlich ein ziemlich langatmiger Fortsetzungsroman, den wir nur lesen, weil wir hoffen, am Ende könnte sich doch noch herausstellen, was die tragikomische Titelfigur jetzt eigentlich die ganze Zeit über wollte. Leider sterben wir, bevor die deutsche Übersetzung des letzten Bandes vorliegt. Aber Teddy Adorno ist im Grab und wir wollen ihn dort in Frieden ruhen lassen. Solange der Verblendungszusammenhang der Kulturindustrie ein paar schöne Gitarrensoli im Gepäck hat, bin ich mit allem einverstanden.

Nein, was mich am Soundtrack des Lebens wirklich stört, ist die Tatsache, dass ich meine Kindheit und Jugend in einem Stummfilm verbracht habe. Ich habe nämlich in jungen Jahren so gut wie nie Musik gehört. Und dass, obwohl ich keineswegs unmusikalisch bin, wie jeder, der schon einmal mit mir geduscht hat, bestätigen wird. Ich habe auch nie Radio gehört. Daran trägt aber vermutlich MDR 1 – Radio Sachsen Schuld oder besser gesagt: eine Verschwörung zwischen MDR 1 – Radio Sachsen und meinen Eltern. Ich habe auch kein Instrument gelernt. Das war bei uns auf dem Dorf zwar nicht völlig unmöglich, aber doch eher ungewöhnlich. Wir Dorflümmel hatten eher andere Hobbys wie zum Beispiel: An den elektrischen Kuhzaun fassen. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich in meiner Jugend irgendwelche Tonträger erworben hätte. Einmal hatte mir ein Freund, der eingefleischter Freund der elektrischen Tanzmusik wie der Frauen, die zu elektronischer Tanzmusik tanzten, war, eine Single geschenkt. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen der – wie soll man sagen – „Band“, nur noch an die Textzeile „Max, don’t have sex with your Ex“ und an quietschbunte Comicvideos mit fröhlich hüpfenden Nippeln. Durch dieses Lied wurde ich für lange Zeit der Klangkunst abspenstig gemacht. Nur ab und zu schaute ich mal bei VIVA rein, wo ich mich allerdings meist für andere Dinge interessierte als für die Musik. Schon deswegen, weil ich den Ton oft abgeschaltet hatte. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Musikmagazin Bravo, wie ich hier und heute freimütig gestehen will. „LSZ“ war beileibe keine bekannte Band und hatte trotzdem die allermeisten Fans in jenen Jahren. Und wer schließlich einwenden möchte, ich müsse doch aber wie alle jungen Leute wenigstens gelegentlich Diskotheken besucht haben, dem antworte ich: Ja, sie haben formaljuristisch gesehen Recht, aber was in den Diskotheken unserer ländlichen Gegend aus den Boxen kam, hatte nichts mit Musik zu tun.

Mein musikalisches Erweckungserlebnis, das nun den erzählerischen Höhepunkt meiner Konfessionen bilden soll, fand Jahre später in dem ebenso himmelblauen wie gebrauchten Skoda eines guten Freundes statt, der mich weit nach Mitternacht von einer Party nach Hause brachte. Er steckte die schon hörbar ausgeleierte Kassette einer Band ins Autoradio, von deren jüngster Entdeckung er mir in den enthusiastischsten Wendungen vorschwärmte. Ich war vollkommen besoffen und apperzipierte nicht einmal den Namen der Band – grölte dafür aber ausgelassen jene herrlich eingängigen Kehrreime mit, die sich in Form von melodischen Parolen aus den Lautsprechern ergossen. Erst tags darauf erfuhr ich, dass es sich bei dieser Gruppe um eine Band namens Tocotronic gehandelt hatte, die man damals wohl noch einer gewissen „Hamburger Schule“ zurechnete. Vielleicht gibt es jetzt jemanden unter euch, der denkt: „Ach die! Die kenn ich ja! Mit denen konnte ich ja noch nie so richtig was anfangen! Die fand ich schon immer langweilig! Die sind doch Scheiße!“ Lieber Freund, mit Verlaub, ich glaube du bist ein Arschloch. Zumindest werden sich unsere Seelen nie zur kosmischen Harmonie zusammen finden. Ich glaube, du bist ein sanguinischer Sozialdarwinist, der immer gut in Sport war und sich der Leistungsfähigkeit seines Körpers freute, ein Mädchenschwarm, der mit 16 Jahren ordnungsgemäß seinen ersten Geschlechtsverkehr hatte, ein realistischer Lebensplaner, der sein Studium der Betriebswirtschaft in der Regelstudienzeit absolviert. Ich gebe zu, es ist vielleicht ein nur ganz kurzer Lebensabschnitt, in der man die Musik dieser Band kennen lernen muss, um ihrem Zauber zu verfallen. So ungefähr zwischen der schriftlichen und der mündlichen Abiturprüfung. Aber dann gibt es keinen besseren Soundtrack zur Identitätskrise der Adoleszenz. Kann man seinen Abscheu gegen die Profanität der gesamten wahrnehmbaren Außenwelt besser verarbeiten als durch Refrains wie „Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“? Ich glaube, das Unverständnis, das dieser Musik von einem nicht kleinen Teil der Menschheit entgegengebracht wird, resultiert aus einem weit verbreiteten Mangel an subtilem Humor, der erforderlich ist, um die Schönheit dieser Poesie zu verstehen. Wer bei einem Songtitel wie Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren nicht wenigstens ein bisschen lächeln muss, der stehle weinend sich aus diesem Bund.

Kurzum, meine Liebe zur Musik war geweckt. Ich kaufte mir Platten, wenn mir auch nur ein Lied irgendeines Musikers gefallen hatte. Schließlich verschlug es mich sogar zu einem Konzert von Tocotronic, die damals noch nicht den Intellektuellen-Pop von heute spielten, sondern ihren alten Abiturienten-Punk. Man konnte sich damals wirklich noch blaue Flecken, zerbrochene Brillen und zerrissene Hemden holen vor der Bühne. Sie merken schon, meine Damen und Herren, mich erfasst eine sentimental-nostalgische Welle. Es kann sein, dass ich nicht mehr an mich halten kann und vielleicht in ein paar Zeilen vom Soundtrack meines Lebens spreche. Ich möchte deshalb vorsichtshalber zum Schluss kommen mit folgender Ergänzung: Das Lied, das lief als ich zum ersten Mal jemanden geküsst habe, stammt von der Band Mazzy Star und heißt Fade Into You. Ich glaube, es ist das schönste Lied aller Zeiten. Aber das ist sicher Geschmackssache. Ich möchte diese Gelegenheit trotzdem nutzen, um im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte hiermit zu erklären, dass dieses Lied auf meiner Beerdigung gespielt werden soll. Wie einige vielleicht wissen, glaube ich nicht an eine Existenz nach dem Tod. Für mich hätte dieses Lied also wohl keine Bedeutung mehr. Aber ich glaube, es wäre eine schöne Musik für den Abspann meines Lebens.

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2 Kommentare

  1. Micha! Verdammt! Ich bin kurz vor den Abiprüfungen und … rat ma! Hab Tocotronic für mich entdeckt …
    das find ich jetz gruselig … mir läuft ein kalter Schauer den Rücken herunter …. Ich fühle mich beobachtet!

    wie machst du das? Was ist dein Trick?

  2. Abi jetzt? Also 2007 oder 2008, oder was? Und dann Tocotronic für sich entdecken! Jep, das find ich auch gruselig.

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