Gewöhnlich liest man Bücher wohl vor allem deshalb, weil man in ihnen Bekanntes wiederentdecken möchte. Das allgemein Menschliche von Jugendliebe bis Todesangst ist eben allen verständlich. Man freut sich über Helden, mit denen man sich „identifizieren“ kann. Schwerer haben es Schriftsteller, die Texte in den Meinungskampf ihrer Epoche werfen. Die Leidenschaften der Vergangenheit sind uns unbekannt, man muss sie erst mühsam aus den Fußnoten und Anmerkungen kramen. Wer also soll noch etwas von Ludwig Börne (1786-1837) lesen wollen, der für sich selbst eine damals ganz neue Rolle als „Zeitschriftsteller“ erfand?
Sicher, man kann sagen, dass er einer der besten Kritiker, Satiriker und politischen Publizisten deutscher Sprache war, aber wird ihn zum Dank dafür heute noch jemand lesen? Er schrieb nie ein „Buch“, nur Artikel, Skizzen, Aphorismen, mit denen er die verschnarchte deutsche Landschaft des Biedermeier immer wieder unsanft aus dem Schlaf weckte. Er ist so mit seiner Epoche, der Restaurationsperiode, untrennbar verbunden; man versteht seine Schriften nicht, ohne dass man sich wenigstens ein bisschen auch für die deutsche Geschichte interessiert. Alle, die diese Hürde genommen haben, dürfen sich dann über einen Stil freuen, der in der damaligen literarische Landschaft einzigartig war: Börne schrieb polemisch, aber witzig, populär, aber nicht herablassend, verständlich, aber nicht vereinfachend.
Liest man dann eine Weile, erkennt man auf den zweiten Blick recht schnell, dass doch längst noch nicht alle seine Gedanken der Vergangenheit angehören. Das wäre auch schwer vorstellbar, denn die Aufklärung, der er sich verschrieben hatte, beginnt in jeder Generation wieder ganz von vorn. Sein besonderer Hass galt dem „Lakaiencharakter“ der Deutschen. Wundert sich noch jemand, warum die Deutschen in der Krise mit ihren Bossen heulen und anfangen, FDP zu wählen, während die Franzosen ihre Chefs im Büro einsperren und damit drohen, ihre Fabrik in die Luft zu jagen?
„Der Deutsche liebt bescheidenes Rechten, mäßiges Fordern, sanften Tadel, stille Vorwürfe. Darum muß man, um auf sie zu wirken, durch Rede und Schrift anmaßlich streiten, ungebührlich fordern, bitter tadeln und polternd zurechtweisen. Denn mäßigt euch, wie ihr wollt, der deutsche Leser mäßigt noch euere Mäßigung.“
Börne war auch einer der ersten, die es wagten, am Thron des deutschen Dichterfürsten Goethe zu sägen:
„Nie hat er ein armes Wörtchen für sein Volk gesprochen, er, der früher auf der Höhe seines Ruhms unantastbar, später im hohen Alter unverletzlich, hätte sagen dürfen, was kein anderer wagen durfte. Noch vor wenigen Jahren bat er die „hohen und höchsten Regierungen“ des deutschen Bundes um Schutz seiner Schriften gegen den Nachdruck. Zugleich um gleichen Schutz für alle deutschen Schriftsteller zu bitten, das fiel ihm nicht ein. Ich hätte mir lieber wie einem Schulbuben mit dem Lineal auf die Finger klopfen lassen, ehe ich sie dazu gebraucht, um mein Recht zu betteln, und um mein Recht allein!“
Gar nicht vergangen, noch weniger erledigt ist auch Börnes Kampf gegen den völkischen Nationalismus. Börne war als deutscher Jude erst durch den Einmarsch Napoleons aus der Frankfurter Ghetto befreit worden und hatte eine Stelle als Beamter gewinnen können. Nach der „Befreiung“ Deutschlands von französischer Besatzung beeilte sich die Stadt Frankfurt mit Erfolg, ihre mittelalterlichen Judengesetze wieder einzuführen.
„Ihr habt die Juden immer verfolgt, aber euer Kopf ist besser geworden, ihr sucht jetzt, was ihr früher nicht getan, eure Verfolgung zu rechtfertigen. Ihr haßt die Juden nicht, weil sie es verdienen; ihr haßt sie und sucht, so gut ihr’s könnt, zu beweisen, daß sie es verdienen, und ihr haßt sie, weil sie – verdienen.“
Börne wurde nicht zuletzt durch seine Rolle als gesellschaftlicher Außenseiter zu einem der ersten Autoren, die begriffen, dass Nationalismus und Demokratie keineswegs problemlos miteinander vereinbar sind, wie die Liberalen glaubten und glauben. Die völkische Rechte antwortete schon damals in bekanntem Ton:
„Wo irgend auf deutschem Boden ein Galgen steht, wird man kein würdigeres Subjekt daran aufzuhängen finden als diesen Herrn Baruch modo Börne.“
Ludwig Börne ist auch der sympathische wie seltene Fall eines Autoren, der mit dem Alter nicht milder, sondern immer radikaler wurde. Anfangs gemäßigter Liberaler wurde er am Ende seines Lebens zum konsequenten Demokraten, der mit dem Sozialismus und Anarchismus liebäugelte: „Die Freiheit, die man von Herren geschenkt bekommt, war nie etwas wert; man muß sie stehlen oder rauben.“ Folgerichtig ging er nach Paris ins Exil, wo er seine Ideen keiner Zensur unterwerfen musste. Seine Briefe aus Paris sind der Auftakt zu jener Bewegung, die zur Revolution von 1848 führte. In seiner letzten und vielleicht besten Schrift Menzel, der Franzosenfresser zerlegt er das Denken eines Mannes, der später zum Begründer des modernen deutschen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus werden sollte. Die deutsche Zukunft gehörte für die nächsten hundert Jahren aber gerade Männern wie diesem Wolfgang Menzel. Es ist Ludwig Börnes schlimmster und schönster Fehler, dass er das Vertrauen in die Macht des Wortes und die Vernunft der Deutschen nie verloren hat.
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Neubearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. 5 Bände. Melzer Verlag (nur noch antiquarisch erhältlich).
Schreibe einen Kommentar