Steh auf, wenn du Dichter bist!

Eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit ist der aufrechte Gang. Ja, die Menschwerdung begann eigentlich erst damit, dass der nackte Affe lernte, auf zwei Beinen zu stehen. Sollte es nicht möglich sein, dass das, was Primaten gelungen ist, auch von Schriftstellern bewältigt wird? Ich plädiere hiermit für das Lesen im Stehen. Aus irgendeinem Grund hat sich die irrige Ansicht durchgesetzt, es sei normal, dem Publikum Texte im Sitzen zu präsentieren. So verschanzt sich der Autor hinter einem schmalen Tischchen, verknotet seine Beine und liest mit gesenktem Kopf in ein Mikrofon, das mit Glück auch gleich noch das halbe Gesicht verdeckt. Wenn man Menschen die Hand gibt, steht man auf. Aber wenn man ihnen etwas vorliest, soll man sitzen bleiben? Das Lesen im Stehen ist ein Zeichen des Respekts vor dem Zuschauer. Es nützt aber zugleich auch dem Zuhörer: Ist doch der sitzende Autor dank zusammengequetschter Lunge und verbeultem Zwerchfell stimmlich weit weniger leistungsfähig als sein stehender Kollege. Jeder Künstler, der mit seiner Stimme arbeitet, weiß das. Sänger wissen das, Kabarettisten wissen das, Vortragende aller Art wissen das. Nur Autoren wissen das offenbar nicht. Natürlich ist es Dichtern, die gleich einen ganzen Abend bestreiten sollen und vielleicht auch nicht mehr die jüngsten sind, nicht zuzumuten, die ganze Zeit zu stehen. Der Vorleser soll sich ja nicht fühlen wie ein Gefangener in Guantanamo. Doch für jede kürzere Form und insbesondere für jede Lesebühne sollte die gusseiserne Regel gelten: Steh auf, wenn du Dichter bist! So erübrigt sich übrigens auch die künstliche Erhöhung des Autors über die Köpfe des Publikums. Das Lesen im Stehen verspricht so, noch eine weitere Fliege mit derselben Klappe zu schlagen: Nie wieder Podium bedeutet auch nie wieder Podiumsdiskussionen! Nie wieder „Ich schreibe auch“! Nie wieder überflüssige Fragen! Höchtens noch eine: Wieso lesen Sie eigentlich nicht im Stehen?

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4 Kommentare

  1. Jawoll! Ich werde diesen Text ausdrucken und ihn mir in den Geldbeutel stecken. Und immer wenn auf einer meiner Veranstaltungen ein Autor mit mir diskutieren will, ob er nicht doch im Sitzen lesen könne, werde ich den Text wieder herauskramen und ihn verlesen. Danke Micha!

  2. P.S.: Ich dachte schon, dieser Text würde mir um die Ohren gehauen, denn er spricht ja eigentlich nur Selbstverständliches aus. Dachte ich zumindest bis gestern Abend. Da war ich auf einer Lesung, bei der ein junger Lyriker sich bei seinem Auftritt mit dem Rücken zum Publikum auf den Boden setzte und seine Gedichte ins Mikrofon flüsterte. Eine etwas prätentiöse Form der Selbstinszenierung, wie ich finde.

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