Manchmal macht man Bekanntschaften und weiß nicht, wie man zu seinem Glück gekommen ist. Fremde Menschen tauchen plötzlich auf und gestehen einem ihre Bewunderung, reichen die Hand zur Freundschaft. So erzählten mir jüngst viele Freunde, sie hätten ganz unerwartet Post von einem Mann bekommen, der sich ihnen bisher noch nie persönlich genähert hatte: von Rainer Brüderle, dem Chef der FDP-Fraktion im deutschen Bundestag. Ich hörte neidisch zu, wie Leute allerorten von ihren liberalen Liebesbriefen erzählten, und schaute Tag für Tag wieder in meinen Briefkasten – aber vergebens. Schon wollte ich alle Hoffnung fahren lassen, als es eines Mittags an der Tür klingelte. Ich öffnete.
„Du lieber Himmel!“, rief ich. „Herr Brüderle! Hätte ich das geahnt, hätte ich doch eine Hose angezogen!“
Ich führte ihn ins Wohnzimmer und setzte ihm schnell eine Tasse von dem Kaffee hin, der noch in der Kanne war. Brüderle nahm einen Schluck und verzog sein Gesicht, riss sich dann aber zusammen und lächelte wieder.
„Ich weiß schon Bescheid“, platzte es aus mir heraus. „Alle meine Freunde haben einen Brief von Ihnen bekommen. Aber nur bei mir kommen Sie sogar persönlich vorbei! Ich bin wirklich sprachlos!“
„Deutschland wird oft bewundert“, begann Brüderle¹ unvermittelt. „Wir stehen wirtschaftlich besser da als viele andere Länder. Das ist aber kein Wunder, sondern Ergebnis harter Arbeit. Vor allem auch Ihrer Arbeit. Dafür danke ich Ihnen.“
„Da bin ich glatt etwas beschämt, Herr Brüderle. Ehrlich gesagt: Ich arbeite schon hart, aber an Deutschland habe ich dabei bisher noch nie gedacht.“
Brüderle schien etwas geistesabwesend, denn er achtete gar nicht darauf, was ich ihm sagte, sondern redete einfach weiter.
„Deutschland geht es gut, wenn die Wirtschaft läuft. Aber es gibt auch eine Verantwortung für die Gesellschaft. Es muss Regeln geben. Leistung und Einsatz müssen sich lohnen. Deshalb haben wir in Deutschland keinen Raubtierkapitalismus, sondern die Soziale Marktwirtschaft, die wir im Bundestag aktiv gestalten.“
„Raubtierkapitalismus?! Herr Brüderle, was ist denn das für eine Vokabel? Sie sind doch nicht etwa auch so ein verkappter Kommunist?“
„Wir stehen für Wachstum.“
„Dass Sie für Wachstum stehen, Herr Brüderle, glaube ich Ihnen. Vor allem in die Breite, was?“ Ich lachte und klopfte Brüderle auf die Schulter, aber der schien gar nicht erheitert.
„Wachstum ist die Voraussetzung für unseren Wohlstand, den wir erhalten wollen.“
Ich bemühte mich, wieder ernst zu werden. Es war an der Zeit, ihm eine seriöse Frage zu stellen, um zu zeigen, dass ich seine Ausführungen auch tüchtig zu schätzen wusste.
„Herr Brüderle, ich verstehe Sie nicht ganz. Sie reden von dem Wohlstand, den wir erhalten wollen. Aber sagten Sie nicht vorhin, dass wir ihn schon haben, den Wohlstand? Und jetzt sollen wir ihn erst noch bekommen?“
Brüderle schien einen Augenblick verwirrt, aber fuhr dann doch mit ungebrochener Stimme fort: „Deswegen haben wir die Bürgerinnen und Bürger mit einem Volumen von 24 Milliarden Euro entlastet, unter anderem mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz.“
„Hä? Bürgerinnen mit einem Volumen von 24 Milliarden Euro? Was sind denn das für fette Trinen? Und misst man Volumina nicht in Kubikmetern? Ich weiß auch gar nicht, ob ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz überhaupt sein muss, Herr Brüderle! Schließlich klagen die Ärzte doch sowieso schon allerorten über die zunehmende Fettleibigkeit der Deutschen!“
„Wir stehen für neue Arbeitsplätze und Rekordbeschäftigung. Deutschland hat die höchste Beschäftigung seit zwanzig Jahren und die Reallöhne sind seit 2010 stetig gestiegen. Deswegen verbessern wir die Aufstiegschancen eines jeden durch gezielte Weiterbildung.“
„Herr Brüderle, ich bin nicht ganz zufrieden mit Ihnen. In der Presse hieß es immer, Sie seien ein Meister darin, Fragen auszuweichen. Ich wollte das immer nicht glauben, aber auch mir haben Sie bisher noch keine einzige Antwort gegeben. Jetzt sagen Sie doch bitte mal: Wieso sind denn die gestiegenen Reallöhne der Grund dafür, dass Sie Aufstiegschancen durch Weiterbildung verbessern wollen? Ich verstehe den Zusammenhang nicht, aber es muss ja einen geben, sonst hätten Sie doch das Wort ‚deswegen‘ nicht benutzt?“
Brüderle schwieg einige Augenblicke. Aber auch nur wenige, dann ergoss sich ein neuer Satz aus seinem Mund wie lauwarmes Wasser aus dem offenen Hahn: „Geldwertpolitik ist stille Sozialpolitik.“
„Ja, aber eine sehr stille“, sagte ich, inzwischen etwas gereizt. „Ungefähr so, wie es eine stille Mildtätigkeit ist, beim Anblick eines Obdachlosen das Portemonnaie in der Hosentasche festzuhalten. Wissen Sie was, Herr Brüderle, ich hole jetzt erst mal eine schöne Flasche Wein. Man erzählt sich doch, dass Sie nichts lieber tun, als Weinköniginnen zu knutschen. Es ist zwar erst Mittag, aber Sie müssen wirklich ein bisschen lockerer werden.“
Ich nahm eine Flasche Rotwein aus dem Schrank, zog den Korken heraus und stellte sie auf den Tisch. Während ich in der Küche zwei Gläser holte, hatte Brüderle sich die Flasche aber schon an den Hals gesetzt. Ich ließ es also gut sein und rief: „Trink, Brüderle, trink!“
„Wir wissen, was Inflation bedeutet“, fuhr Brüderle fort, nachdem er mit einem Zug die Flasche geleert hatte. „Rentner, Arbeitnehmer und Sparer können sich von ihrem Geld weniger kaufen, wenn es weniger wert ist. Inflation vernichtet Werte. Hier müssen wir einen Riegel vorschieben.“
„Ja, das stimmt!“, erwiderte ich. Es hatte mich nun doch etwas verstimmt, dass Brüderle nicht einmal einen Schluck für mich übrig gelassen hatte. „Aber wissen Sie, wer noch viel mehr als Rentner, Arbeitnehmer und Sparer unter einer Inflation leiden würde? Die Menschen mit einem riesigen Geldvermögen! Müsste es nicht auch für diese armen Leute eine Lobby geben? Könnte sich dieser Aufgabe nicht die FDP annehmen?“
Jetzt machte sich bei Brüderle doch der Wein bemerkbar, denn er begann zu faseln: „Durch die kontinuierliche Arbeit der FDP-Bundestagsfraktion wollen wir weiterhin Wachstum, Arbeitsplätze, Wohlstand, stabiles Geld und solide Haushalte, also unsere Soziale Marktwirtschaft sichern!“
„Das glaube ich Ihnen, Brüderle, aber Sie müssen aufpassen: Die Kontinuität der Arbeit der FDP-Bundestagsfraktion könnte darunter leiden, dass es nach der nächsten Wahl vielleicht gar keine Fraktion der FDP mehr gibt!“
„Deutschland steht gut da. Deutschland hat wichtige Hausaufgaben gemacht. Probleme müssen angepackt und dürfen nicht verschleppt werden.“
„Brüderle, Sie sind ja besoffen! Um ein Problem zu verschleppen, wird man es doch auch erst mal anpacken müssen, oder?“
„Es geht um die richtigen Entscheidungen.“
„Na, da bin ich ja froh, dass es diesmal nicht um die falschen geht.“
„Mit Überzeugung für eine Soziale Marktwirtschaft, mit Haltung, mit Mut und Freiheit zur Verantwortung.“
„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit! haben Sie vergessen, Brüderle!“
„Denn Freiheit bewegt!“, brüllte Brüderle jetzt und sprang von seinem Stuhl auf. Er schwankte, stolperte und hielt sich mit Mühe am Tisch fest. Ich stand auf und führte Brüderle vorsichtig zur Tür.
„Meine Stimme haben Sie, Brüderle!“, redete ich ihm gut zu. „Meine Stimme haben Sie! Aber seien Sie doch so gut und gehen Sie jetzt nach Hause! Oder lassen Sie sich die Fahrbereitschaft kommen! Sie brauchen jetzt auf jeden Fall ein bisschen Schlaf!“
Als Brüderle im Flur stand und sich wieder einigermaßen aufrecht hielt, winkte ich zum Abschied und schloss die Tür. Ich hörte noch, wie es jetzt bei meinen Nachbarn klingelte. Ich hoffe wirklich, dass Familie Nikopolidis ihn freundlich empfangen hat.
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¹ Alle Zitate originalgetreu aus einem Brief von Rainer Brüderle an diverse „Bewohner des Hauses“ in verschiedensten Orten aus dem November 2012.