Des Rätsels Lösung

Eine sehr schöne Lesebühne war’s gestern in der scheune vor mehr als 80 Zuschauern, bei denen wir uns in freudigem Überschwang noch einmal herzlichst bedanken möchten! Eigentlich haben ja nun diejenigen, die unsere April-Ausgabe verabsäumt haben, auch die Chance verpasst, das von mir angekündigte SENSATIONELLE GEHEIMNIS zu erfahren …

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Es ist gar nicht so leicht, sich richtig zu verirren. Allzu leicht irrt man sich und geht aus Versehen den richtigen Weg. Meine Geliebte und ich trafen in den Ferien glücklicherweise zielsicher den falschen, sonst wäre uns wohl ein richtig spannendes Ereignis entgangen. Dabei ist es eigentlich schwer, den richtigen Weg zu verfehlen, wenn sämtliche Wanderungen mit großem Aufwand markiert sind. Es gelang uns aber trotzdem, und zwar indem wir einfach von Anfang an einen Weg benutzten, der zwar markiert, aber trotzdem falsch war. Wir hatten sogar einen Führer dabei, also keinen aus Fleisch und Blut oder sogar mit Schnauzbart, sondern einen aus Papier. Der sollte uns eigentlich auf dem richtigen Weg halten. Und er tat auch sein Bestes: Wir erkannten auf unserem falschen Weg alle Kennzeichen des richtigen wieder – den ansteigenden Pfad, das verlassene Haus, das kleine Dörfchen, alles da. Nur, dass wir nach zwei Stunden Wanderung im kleinen Dörfchen erkannten, dass das kleine Dörfchen gar nicht das kleine Dörfchen war, zu dem wir eigentlich hatten wandern wollen. Es blieb uns also nichts übrig, als den falschen Weg in umgekehrter Richtung noch einmal zu beschreiten – genau der richtige Schritt, wie sich später herausstellen sollte.
La Gomera ist die einsamste der Kanarischen Inseln. Das einzige Mal, das dieses jungfräuliche Eiland von der Weltgeschichte geküsst wurde, war am 6. September 1492, als ein gewisser Cristoforo Colombo hier auf seiner Reise nach Indien vor Anker ging, um frisches Wasser aufzutanken. Die Legende hat ihm eine Affäre mit der Gouverneurin Beatriz de Bombadilla angedichtet, die sich zu jener Zeit Verdienste um die Dezimierung der Ureinwohner erwarb. Seitdem betrat kein bedeutender Fuß mehr die Küste der kleinen Insel, bis in den sechziger Jahren deutsche Hippies eine Gegend namens Valle Gran Rey, das Tal des großen Königs, für sich entdeckten. Die Hippies sind inzwischen weiter nach Nepal gezogen, stattdessen genießen Wanderer die Einsamkeit auf einer Insel, die weniger Einwohner hat als Zittau.
Äußerst selten also begegnet man anderen Menschen auf den einsamen Wanderpfaden. Umso erstaunter waren wir, als uns auf dem Rückweg von unserem fehlgeleiteten Ausflug gleich mehrere Exemplare entgegen kamen. Noch verwirrter wurde ich, als mir das Gesicht des Mannes, der sich da mit einer kleinen, unscheinbaren Frau an uns vorbei drängelte, seltsam bekannt vorkam. Hatte ich diesen Kerl nicht schon einmal im Fernsehen gesehen? Dem Pärchen folgte ein groß gewachsener Mann mit Sonnenbrille und schwarzem Muskelshirt, dann ein kleiner, einheimischer Führer. Als sie uns passiert hatten, blickte mich meine Geliebte vielsagend an. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Niemand anderer als Joachim Sauer war uns eben begegnet, gemeinsam mit seiner Frau: Angela Merkel. Jetzt fiel mir auch ein, bei welcher Gelegenheit ich diesen Mann schon einmal gesehen hatte: als Hahn im Korb mit sieben Frauen beim Kaffeekränzchen anlässlich des G-8-Gipfels in Heiligendamm.
Während wir kichernd den Pfad wieder bergan stiegen, holte uns ein junger Wanderer ein, der in Sandalen hinter uns den Hang hinaufgerannt war.
„Na, habt ihr sie erkannt?“, begrüßte er uns.
Wir lachten, spontan solidarisiert durch die Wucht des Ereignisses. Man sollte einmal recherchieren, wie viele Bekanntschaften durch erzwungene Intimität entstehen. Vermutlich sind insbesondere die meisten Ehen diese Ursprungs. Der junge Fremde stellte sich als Ralf vor und als Berliner heraus. Als meine Geliebte sich noch einmal lachend über den großen Zufall wunderte, schüttelte Ralf energisch den Kopf.
„Glaubst du an Zufall?“, fragte er, „Ich denke, dass alles, was uns passiert, einen Zweck hat.“
Wir setzten unseren Weg fort, während Ralf die nächste Stunde mit seiner Geschichte füllte. Er war nicht zufällig auf La Gomera, sondern mit dem Zweck, das Herz der Tochter seiner Physiotherapeutin zu erobern. Bei einer Verabredung in Valle Gran Rey, dem ehemaligen Hippie-Paradies und heutigen Touristenzentrum, hatte er die gesuchte Tochter namens Valerie jedoch durch unglückliche Umstände verpasst. Dies war für Ralf ein Zeichen: Offenbar hatte die Vorsehung nicht vorgesehen, dass sie zueinander fänden. Ralf zog sich zurück und verbrachte die letzten drei Wochen, wie er uns eindringlich schilderte, in völliger Abgeschiedenheit in dem Dörfchen Lo del Gato in den Bergen. Valerie blieb lieber im sonnigen Tal von Valle Gran Rey an der Küste.
„Es gibt eben zwei Sorten von Menschen“, erklärte Ralf, „Die, die gerne unten in der Sonne liegen und die, die lieber oben in den Bergen wohnen.“
Ralf wohnte oben bei Valeries Mutter, der Physiotherapeutin, inmitten einer Gemeinschaft deutscher Aussteiger, die von einem ehemaligen Ladenbesitzer angeführt wurde, der aus Schwerin stammte und sich nun auf La Gomera eine neue Existenz als Bauer aufbaute.
Ich wunderte mich im Stillen: Wenn dieser gute Mann ein Leben jenseits der Zivilisation führen wollte, warum war er dann nicht einfach in Schwerin geblieben?
Seine hiesigen Versuche jedenfalls waren nicht eben von Erfolg gekrönt: Mit den wenigen alten einheimischen Bauern hatte er sich überworfen, als er ihnen zu Gunsten des ökologischen Landbaus den Einsatz von Pestiziden verbieten wollte. Die Gründung einer provisorischen Waldorfschule war unverständlicherweise am Widerstand der spanischen Schulbehörden gescheitert. Daraufhin verließen Frau und Kind ihren Ernährer und siedelten sich stattdessen auf der Nachbarinsel La Palma an. Und nun hatte nach drei Wochen auch noch der junge Ralf sein Angebot ausgeschlagen, bei ihm auf dem Bauernhof zu bleiben.
„Ich habe drüber nachgedacht, aber es hat sich nicht so angefühlt, als ob ich da hingehöre, versteht ihr?“, erklärte uns Ralf, „Außerdem gab’s da keine Frauen.“
Ich beglückwünschte Ralf innerlich zu seiner Entscheidung. Ich selbst habe mich außerhalb des öffentlichen Personennahverkehrs noch nie für die Idee des Aussteigens begeistern können. Was reizt Menschen, die moderne Kultur zu verlassen, um stattdessen in selbstgewählter Isolation Gemüse zu züchten? Vielleicht empfinden Menschen, die vom Dorf kommen und ihm entkommen sind, diese Versuchung weniger, weil sie den bodenlosen Stumpfsinn des Landlebens am eigenen Leibe erfahren haben.
War es Zufall oder Schicksal, dass ich eben in diesen Urlaubstagen die Bekenntnisse von Jean-Jacques Rousseau las? Alle Träume von einem Leben im Einklang mit der Natur, abseits der Zumutungen der Gesellschaft lassen sich auf diesen philosophischen Aussteiger zurückführen. Freilich genügte es im 18. Jahrhundert noch, eine ungepflegte Perücke zu tragen, um als Außenseiter zu gelten. Und welche Widersprüche sich bei diesem Autor auftun: Ein Mann, der die gesamte Pädagogik durch eine natürliche Erziehung revolutionieren will – aber seine eigenen fünf Kinder nach der Geburt ins Waisenhaus gibt. Ein Mann, der von der Reinheit der guten Wilden schwärmt – aber das Angebot, nach Korsika ins Exil zu gehen, ausschlägt, weil er befürchtet, diese Barbaren könnten ihn vielleicht nicht einmal mit Büchern versorgen. Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Aussteiger rechtzeitig oder zu spät zu derselben Erkenntnis kommt wie der Weltenbummler in Sean Penns übrigens sehr sehenswertem Film Into the Wild: „Happiness is only real if shared.“ Und jedes vermeintliche Paradies verliert spätestens dann seine Unschuld, wenn es entdeckt wird. Auf jeder ehemaligen Hippie-Insel wird irgendwann Angela Merkel wandern gehen.
„Das nimmt uns zu Hause sowieso kein Mensch ab“, sage ich beim Abschied zu Ralf, „Angela Merkel getroffen!“
„Wenn euch das jemand nicht glaubt“, erwidert er, „Dann sagt einfach: Der Ralf hat sie auch gesehen.“

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1 Kommentar

  1. Dazu fällt mir nur Volker Pispers ein: Wenn ihnen einer die Pistole auf den Leib setzt und sagt „Beck oder Merkel“ da können sie doch nur sagen „Drück ab!“

    Und du hast nichts dagegen getan.

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