Heimkehr oder Udo Tiffert las in Rothenburg

Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich jemandem erzähle, ich würde „nach Hause“ fahren, wenn ich auf dem Weg nach Dresden bin. Eigentlich bin ich ja woanders „zu Hause“. Zumindest war ich es. Und eigentlich ist es ja schön, aus der Stadt mal wieder raus aufs Land zu fahren. Man lernt die Heimat in der Fremde wieder schätzen oder zumindest ertragen, wenn man nicht mehr auf sie angewiesen ist. Wenn ich in den letzten Jahren „nach Hause“ aufs Land fuhr, dann meistens, weil ich einen Termin bei meiner Zahnärztin hatte. Das war sicher nicht sehr geschickt, verbinden sich doch so alle meine Heimatbesuche mit Schmerzen. Als Pawlowscher Hund müsste ich aufheulen, jedesmal wenn jemand die Worte „nach Hause“ in den Mund nähme. Ich habe es aus irgendeinem Grund nie fertig gebracht, mir einen Zahnarzt in Dresden zu suchen. Schmerzen sind eben doch Vertrauenssache. Jetzt geht meine Zahnärztin in Rente und mir wird nichts anderes übrig bleiben.

Ich komme aus Diehsa. Das kommt aus dem Sorbischen und heißt „Backtrog“. Das Dorf liegt in einem Tal wie in einer Schüssel. Haben wir im Heimatkundeunterricht gelernt, damals in der vierten Klasse, als es noch Heimatkunde gab und eine Schule im Dorf. Diehsa war bekannt für seine große Freilichtdisko, in der sich die Jugendlichen des ganzen Umlandes im Sommer um den Verstand tranken. Noch heute treffe ich manchmal Leute, die das Dorf kennen, weil sie als Teenager jede Woche mit dem Fahrrad dorthin gefahren sind, in der steten Hoffnung, vielleicht unterwegs irgendwann einmal ihre Unschuld zu verlieren. Später ging auf eine Schule, die heute Friedrich-Schleiermacher-Gymnasium heißt. Sie liegt in Niesky. Udo Tiffert, der 1963 in eben diesem Städtchen geboren wurde, hat mich zu einer „Rückkehr-Frühjahrs-Lesung“ eingeladen, die am 04. April in der Stadtbibliothek Rothenburg stattfinden soll. Udo hat sich für eine wirkliche Heimkehr entschieden: Nach Jahren in Boxberg, Cottbus und Berlin hat er sich ganz auf das Experiment Landleben im eigenen Haus eingelassen. Ich frage meine Mutter, ob sie nicht mitkommen will. Es ist die erste Lesung in ihrem Leben.

Rothenburg ist ein Städtchen an der polnischen Grenze. Ich fahre nach längerer Zeit zum ersten Mal wieder mit dem Auto. Es ist noch zu früh, als wir ankommen, also laufen wir einmal um den kleinen Marktplatz herum. In dem Geschäft, über dem „Buchhandlung“ steht, gibt es nur noch ein Buchregal. Dafür kann man jetzt hier auch Schnaps kaufen. Die kleine Bibliothek teilt sich ein Haus mit dem Stadtmuseum hinter der Kirche an der Straße, die hinunter zur Neiße führt. Entlang des Ufers erstreckt sich ein Park, in dem ich als Teenager mit meinen Freunden beim „Rothenburger Sommerfest“ meine ersten amourösen, aber noch platonischen Abenteuer erlebte. Platon habe ich wenig später kennen gelernt, mit Amor sollte es noch eine Weile dauern. Jetzt übt im Park ein Spielmannszug vor der menschenleeren Freilichtbühne. Sie spielen „Der Steiger kommt“. Ihr Chef gibt schnittige Anweisungen.

An der Tür der kleinen Bibliothek begrüßt uns eine Frau mittleren Alters, die mich an eine Handballtrainerin erinnert. Ihr rustikaler Charme entfaltet eine ganz eigene Art von Anmut. Sie schickt uns in das hinterste Zimmer. Drei Bierbänke mit bunten Sitzkissen darauf sind quer im Raum aufgestellt. Es dauert nicht lange und zwanzig Menschen füllen ihn. Die Bibliothekarin ist ganz bestürzt über so viel Zuspruch. Die Regale rings umher sind mit Kinderbüchern gefüllt. An der Wand hängt ein Poster, auf dem ein Pärchen von Seekühen abgebildet ist. Manchmal machen mich die unscheinbarsten Dinge so traurig, dass ich heulen könnte, hätte ich mir nicht mit zwölf Jahren das Weinen abgewöhnt. So wie die unbeholfene Schönheit dieser zwei knutschenden Seekühe. Die Bibliothekarin bietet uns Wein an. Ich nicke. „Trocken oder lieblich?“ Ich nehme den trockenen, die Einheimischen entscheiden sich für den süßen Wein. Als ich das Glas fast ausgetrunken habe, erschrecke ich, denn ich hatte mir eigentlich vor Jahren fest vorgenommen, nie wieder Alkohol zu trinken, wenn ich mit dem Auto fahre, nachdem ich meinen Führerschein für anderthalb Jahre versoffen hatte. Ich fahre so selten, dass ich es vergessen habe.

Udo hat es am Anfang nicht leicht. Die Scherze, mit denen er versucht, das Eis zu brechen, laufen ins Leere, weil die Menschen anscheinend nicht gewöhnt sind, dass man bei Lesungen lachen darf. Wahrscheinlich wissen sie einfach überhaupt nicht, wie man sich bei einer Lesung verhalten soll. Aber dann bemerken sie immer mehr, dass das, was der schüchterne Mann da vorne mir ruhiger Stimme über die Lausitz, über das vereinigte Deutschland und über die Arbeitslosigkeit vorliest, wirklich etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun hat.

„Es ist schwierig über Hartz IV zu schreiben“, sagt Udo, „Man verhungert nicht, man hat ein Dach über dem Kopf und vergleichen mit den wirklich Armen auf anderen Kontinenten geht es einem noch gut, aber trotzdem …“

Die Menschen im Raum nicken. Je länger die Lesung dauert, desto öfter wagen sie auch, zu lachen über die kleinen Missgeschicke und die kleinen Glückseligkeiten der Figuren in Udos Geschichten – Figuren, die hilflos sind, ohne lächerlich zu sein, in denen sie sich wiederfinden können, ohne vom Selbstmitleid in die Arme genommen zu werden. Der Applaus am Ende ist lang. Ich bin ganz versunken im Nachdenken darüber, was eigentlich Heimat noch für mich bedeutet. Gern würde ich noch länger bleiben, aber es hilft nichts, wir müssen uns von Udo verabschieden und aufbrechen. Denn morgen früh um sieben habe ich einen Termin beim Zahnarzt.

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