Warum ich gerne nach Leipzig fahre

Ein alter Mann steigt in die Straßenbahn. Er setzt sich, hievt einen Aktenkoffer und zwei prall gefüllte Plastiktüten auf seinen Schoß. Die rabenschwarzen Löckchen auf seinem runzligen Schädel sind auf den ersten Blick als Perücke zu erkennen. Das Kunsthaar sticht so lebhaft von seiner bleichen Haut ab, dass die umstehenden Passagiere sich zusammennehmen müssen, um nicht loszulachen. Der alte Mann zieht ein Diktiergerät hervor, hält es sich vor den Mund und fängt an, laut hinein zu sprechen: „Donnerstag, genaue Zeit: neunzehn Uhr und siebenundzwanzig Minuten … ich befinde mich in Leipzig, in einer Straßenbahn … Linie 14 Richtung Plagwitz … wir erreichen jetzt die Haltestelle Nonnenstraße … Fahrzeug produziert von Bombardier …“ Die Fahrgäste ringsum wissen nicht so recht, wohin mit ihren Blicken. Sie sind neugierig und möchte gerne schauen, wer da so wirr redet, aber haben doch auch Angst, angesprochen zu werden. „Am Sonntag finden in Leipzig Wahlen zum Oberbürgermeister statt … jeder darf teilnehmen, sofern er mindestens ein halbes Jahr als Einwohner beim Amt gemeldet ist … auch vorher kann man bereits abstimmen … nicht jeder weiß das … man sollte am besten gleich zwei Oberbürgermeister wählen, dann ist die Stimme wenigstens ungültig … aber wer nicht wählt, der hilft diesem Obergauner, im Rathaus bleiben zu könen … der Kaltwasserganove sitzt ja wenigstens schon im Gefängnis …“ Als wir uns der nächsten Haltstelle nähern, steckt der alte Mann das Diktiergerät wieder ein und nimmt auch die schwarze Perücke ab, als hätte er die nur als Requisit gebraucht, um seine Äußerungen zu protokollieren. Eine faltige Glatze kommt zum Vorschein. Er steht auf, drängelt sich zur Tür und steigt aus. Wir fahren wieder ab, draußen hört man ein lautes Hupen. Ich schaue hinaus: Der alte Mann ist vor ein Auto gelaufen, das nun quietschend beschleunigt und an ihm vorbei rast. Der alte Mann setzt seinen Weg auf der Fahrbahn fort.

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